„Wer bin ich und wenn ja wie viele?“

17. Jul 2021

Analysierte Beobachtungen für den Hausgebrauch. 

Fast jeder mag einfühlsame Menschen.  Manch einer wünschte sich selbst auch mehr Einfühlungsvermögen, um sich besser in andere hineinversetzen zu können und die Facetten der emotionalen Höhenflüge oder Schieflagen seiner Mitmenschen besser nachvollziehen zu können. 
Aufrichtiges Mitgefühl, geteilte Freude oder auch reine Intuition, wann man Schweigen oder besser gleich Taten folgen lassen sollte, sind Sozialkompetenzen, die sich nicht leicht erlernen lassen. Verständnis und Einfühlungsvermögen treffen aber auch nicht immer nur auf Befürworter:innen. So einigen unter uns geht eine zu emotionale Transferleistung im zwischenmenschlichen Gefüge sogar auf die Nerven. Manche halten ein allzu achtsames Verhalten auch für reine Zeitverschwendung oder gar für einen Ausdruck menschlicher Schwäche. 

Es heißt, daß gegensätzlich ausgeprägte Persönlichkeitsstrukturen auch durch das unterschiedlich stark entwickelte Zusammenspiel zwischen rechter und linker Gehirnhälfte veranlagt werden, wobei es zu komplementären Kontrasten kommen kann, die in Beziehungen zu symbiotischen Ergänzungen führen können. Gegensätze können sich anziehen, da sie voneinander profitieren oder zumindest friedlich nebeneinander koexistieren können. 

Während besonders empathische Personen durch ihre mitfühlenden Eigenschaften besonders gut Stimmungen und Situationen lesen können, fallen ihnen jedoch rationale  Entscheidungen oder klare Abgrenzungen wesentlich schwerer. Daher entstehen häufig komplementäre Konstellationen bei Paaren, Geschäftspartner:innen oder in Freundschaften, die sich hervorragend ergänzen. Wenn eine Verbindung zu einseitig ausfällt, sollte man jedoch Acht geben, dass keine Co-Abhängigkeit daraus resultiert. 

Interessanterweise werden Menschen mit niedrigschwelliger bis kaum vorhandener Empathie häufig pathologisiert, man unterstellt ihnen eine Form des Asperger-Syndroms. Schnell ist man versucht eine neurologische Erklärung für diese Art „emotionaler Behinderung“ zu finden. Allerdings sind die Übergänge zu einem unstrittigen Krankheitsbild so diffus daß der Verdacht naheliegt, dass unsensibles Verhalten mit Schein-Diagnosen entschuldigt werden soll. 

Auffällig ist jedoch, dass Personen mit wenig Einfühlungsvermögen herausstechen, weil sie anecken, ungeliebte Wahrheit offen aussprechen oder mit der Tür ins Haus fallen, ohne die geringste Rücksicht auf ihre Umgebung zu nehmen. Was sich am Verhandlungstisch jedoch als Stärke erweisen kann, mag in persönlichen Beziehungsgeflechten zur Schwäche werden. 

Dahingegen sondieren empathische Menschen in Windeseile die Lage, bevor sie ihre Superpower einsetzen, die für Nichteingeweihte unerkannt bleibt. Mühelos lassen sie sich in jede noch so heterogene Gruppe integrieren. Dieser intuitive Wesenszug kommt dabei sogar auch ohne vorausgehende bewusste Entscheidungsprozesse aus und erfolgt oftmals rein situativ.  Ob die Ursache für ein stark anpassungsfähiges Verhalten einer Veranlagung geschuldet oder in der frühkindlichen Prägung zu suchen ist, kann hier jedoch nicht weiter erörtert werden. Halten wir daher für’s erste fest, dass im Zweifel sowieso immer die Eltern Schuld sind und wenden uns den Symptomen eines besonderen Phänomens zu. 

Neben großen Abgrenzungsschwierigkeiten und dem Wunsch nach Konformität zum Gegenüber kommt bei Empathen auch noch das Bedürfnis hinzu, es stets allen Recht machen zu wollen. Von anderen akzeptiert oder gemocht zu werden, sich zu integrieren und vor allem, nicht aufzufallen ist keine Frage der Toleranz, sondern des eigenen Anpassungswillens. 

Vordergründig gelten empathische Personen als umgänglich, liebenswert, verlässlich und hilfsbereit. Obwohl ihre entgegenkommende Natur ihre Beliebtheit steigert, empfinden sie in ihrem Innern aber selten die erhoffte Genugtuung und Anerkennung, was die Frage aufwirft, welches Maß an Empathie nützlich ist, bevor zu viel Empathie den individuelle Charakter in einer multiplen Persönlichkeitsmaskerade unkenntlich macht. Kann man im pathologischen Sinne zu mitfühlend sein und konstituiert somit ebenfalls ein Extrem? 

Leben die davon betroffenen Personen nicht sogar überwiegend unerkannt, da ein wesentlicher Charakterzug dieses Leidens ja gerade die perfektionierte Verhaltensflexibilität ist? 

Meisterhaft wie Chamäleon-Menschen können manche Menschen ihren Habitus in Sprache, Auftreten und Verhalten ihrer Umwelt anpassen. Als geschulte Beobachter:innen besitzen sie einen umfangreichen Wissensschatz über diverse Gruppen und deren Verhaltensregeln, wissen sich immer angemessen zu benehmen und haben darüber hinaus die Fähigkeit, blitzschnell und situationsbezogen auf Unerwartetes zu reagieren. Routiniert können diese anteilnehmenden Opportunisten unterschiedliche Ansichten vertreten, ihre Haltung modifizieren und dabei durchaus überzeugend sein: Fake it `til you make it! als normatives und jeden Lebensbereich bestimmendes Mantra. 

Nehmen Verhaltensweisen ein derartiges Ausmaß an, so erscheint es angemessen von einer Identitätsstörung zu sprechen. In der Komödie Zelig von 1983 setzen Mia Farrow und Woody Allen die Problematik dieses Syndroms perfekt in Szene. Insbesondere die innere Zerrissenheit der Identitätslosen, die sich in ihrer eigenen, unspezifischen bis beliebigen Persönlichkeit verlieren, wird hier thematisiert. Denn wie jede Beeinträchtigung hat auch adaptives Verhalten seine Nebenwirkungen. Zum einen ist es enorm anstrengend und mithin ermüdend, sich permanent für andere zu bemühen, nur weil man allen gefallen und niemals unangenehm auffallen will.

Ein geringes Selbstwertgefühl, wie auch mangelnde Zufriedenheit mit dem eigenen Selbst scheinen die Wurzel des Übels zu sein, mit dem eine Verunsicherung bezüglich der eigenen Persönlichkeit einhergeht, die alles in Frage stellt und somit der markanten Ausbildung des eigenen Charakters nicht sonderlich viel Spielraum übrig lässt. 

Und egal wie geschickt Chamäleon-Menschen sich verstellen mögen, das Gegenüber wird trotzdem unbewusste und somit widersprüchliche Signale empfangen, was in der Unfähigkeit mündet, authentische Beziehungen aufrechtzuerhalten. Obwohl der vehemente Wunsch nach Anerkennung und Gefallen Alles bestimmend ist, wird gerade dieser in der Regel unerfüllt bleiben. Wer den Betroffenen aber manipulative Absichten unterstellt, tut ihnen unrecht. Ein Großteil ihrer Handlungsweisen läuft im Unterbewusstsein ab und folgt früh erlernten Automatismen, die logisch nur schwer beherrschbar sind, weshalb sich Chamäleon-Menschen meist in einem ständigem Zwiespalt befinden, dem sie nicht selten mit Widerwillen und einem Gefühl von Ohnmacht gegenüber stehen. Erst in der Retrospektive herrscht für die Betroffenen eine gewisse Klarheit über die eigenen Fallstricke. 

Mich fasziniert dieses kaum erkannte Leiden ungemein, da ich mich ebenfalls zu einer milden Form dieser Identitätsstörung bekenne. Zwar könnte man auch entschuldigend argumentieren, dass ich durch meine voranschreitende Sehbehinderung permanent dazu angehalten bin, mich krankheitsbedingten Veränderungen immer wieder neu anzupassen. Die allgemeine Tendenz zu meinem adaptiven Verhalten ließe sich allerdings weitaus früher zurück datieren. Über Jahrzehnte hinweg hatte ich es nie hinterfragt, auf Reisen den Akzent und den Sprachgebrauch einheimischer Personen binnen Kürze mit erstaunlichem Talent zu imitieren. Ob Dialekt, Slang, Tempo oder eine auffallende Betonung, ich sog unterbewusst alles auf und passte mich blitzschnell meinen Mitmenschen oder meinem jeweiligen Gegenüber an. Nur bei Sprachfehlern zog ich eine Grenze. Das solches Verhalten bei manchen Bekannten oder Arbeitskollegen nicht unbedingt auf große Anerkennung oder Gegenliebe traf, musste ich dabei auch erfahren. Denn ausgerechnet Menschen, die für mich reizvolle und wohlklingende Sprachfärbungen haben, sind es auf Dauer leid, eben immer genau darauf angesprochen zu werden. “Geh Schääßen und Schläch di!” wollen sie mir zurufen. Und ob der Handwerker oder die Taxifahrerin es wirklich gut finden, wenn ihnen die Prenzlauer Berger Tussi plötzlich in reinstem Berlinerisch antwortet, sei dahingestellt. 

Auch innerhalb meiner Familie und meines Freundeskreis wähle ich inzwischen aus mehreren reichhaltigen Akzent-Identitäten aus, um diese situativ anzuwenden.
Meinem Sohn schenkte ich beispielsweise einst eine Krokodil-Handpuppe namens Ole, die – wie ich ihm glaubhaft versicherte  – aus Norddeutschland stamme und daher eben kein Hochdeutsch sondern nur norddeutschen Dialekt sprechen könne. Die Tochter einer lieben Freundin von mir findet uns inzwischen aber nur noch peinlich und anstrengend, wenn wir uns in der einen oder der anderen multiplen Persönlichkeit mal so richtig gehen lassen. 

Zwar würde ich nicht so weit gehen, zu behaupten, dass ich auch meine Einstellung oder Meinungen meinem Gegenüber anpasse. Dessen ungeachtet vermag ich das Verlangen nach Akzeptanz und die eng daran geknüpfte Befürchtung nicht gut genug zu sein, aber sehr wohl nachzuvollziehen. Ein klar situationsabhängiges Gefühl, das je nach Beschaffenheit der Komfortzone stark schwankend ausgeprägt ist. Ohne, dass es sich dabei gleich um eine Identitätsstörung handeln muss, besitzen die meisten unter uns multiple Identitäten, die allerdings im Normalfall einer charakterbildenden Persönlichkeit untergeordnet sein sollten: Ich bin Mutter, Freundin, Tochter, Kollegin, albern, traurig, leise, laut. 

Doch nicht alle Identitäten lassen sich so klar beschreiben oder einordnen. So gehöre ich – etwas polemisch gesagt – auch drei Randgruppen an: ich bin eine Frau, alleinerziehend und behindert. In meinem Manuskript widme ich diesem komplexen Thema ein ganzes Kapitel, in dem es unter anderem um die hoch problematische Reduzierung auf eine singuläre Identität geht. Das empfinde ich und viele Leidensgenossinnen mit mir als unzureichend, weil die Reduzierung keiner Rolle gerecht wird und somit auch potentiellen Lösungen den Weg versperrt. 

Umgekehrt führt es dazu, dass ich – nicht immer zu meinem Nachteil – bestimmte Identitäten bediene und somit abwäge, welche mir eher nutzen und welche mir schaden könnten. Um aber den Bogen wieder zurück zur “Identitätsstörung” zu schlagen, muss die entscheidende irgendwann gestellt werden, wie viele verschiedene Identitäten letztlich noch vertretbar sind und ob sich an Habitus, Sprache oder Gestik der Einzelidentitäten bereits ablesen lassen könnte, ob bereits ein Leiden vorliegt? 

Die Spannweite zwischen ultimativem Konformismus und einem gesunden, diversifizierten Selbstverständnis ist groß und eindeutige Parameter sind nur schwer determinierbar. In meinem Fall versuche ich durch kontinuierliches Reflektieren alleine oder auch mit anderen eine Art Supervision herzustellen. Manchmal brauche ich auch die Unterstützung wahrer Freunde, die mir den Kopf gerade rücken. Aufgrund der extrem schwierigen Diagnose müssen wir uns aber wohl darüber im Klaren sein, dass es wesentlich mehr Chamäleon-Menschen gibt als gemeinhin angenommen und daher (nach Richard David Precht) tatsächlich gelten sollte: „Wer bin ich und wenn ja wieviele?“

„Wer bin ich und wenn ja wie viele?“

Analysierte Beobachtungen für den Hausgebrauch. 

Fast jeder mag einfühlsame Menschen.  Manch einer wünschte sich selbst auch mehr Einfühlungsvermögen, um sich besser in andere hineinversetzen zu können und die Facetten der emotionalen Höhenflüge oder Schieflagen seiner Mitmenschen besser nachvollziehen zu können. 
Aufrichtiges Mitgefühl, geteilte Freude oder auch reine Intuition, wann man Schweigen oder besser gleich Taten folgen lassen sollte, sind Sozialkompetenzen, die sich nicht leicht erlernen lassen. Verständnis und Einfühlungsvermögen treffen aber auch nicht immer nur auf Befürworter:innen. So einigen unter uns geht eine zu emotionale Transferleistung im zwischenmenschlichen Gefüge sogar auf die Nerven. Manche halten ein allzu achtsames Verhalten auch für reine Zeitverschwendung oder gar für einen Ausdruck menschlicher Schwäche. 

Es heißt, daß gegensätzlich ausgeprägte Persönlichkeitsstrukturen auch durch das unterschiedlich stark entwickelte Zusammenspiel zwischen rechter und linker Gehirnhälfte veranlagt werden, wobei es zu komplementären Kontrasten kommen kann, die in Beziehungen zu symbiotischen Ergänzungen führen können. Gegensätze können sich anziehen, da sie voneinander profitieren oder zumindest friedlich nebeneinander koexistieren können. 

Während besonders empathische Personen durch ihre mitfühlenden Eigenschaften besonders gut Stimmungen und Situationen lesen können, fallen ihnen jedoch rationale  Entscheidungen oder klare Abgrenzungen wesentlich schwerer. Daher entstehen häufig komplementäre Konstellationen bei Paaren, Geschäftspartner:innen oder in Freundschaften, die sich hervorragend ergänzen. Wenn eine Verbindung zu einseitig ausfällt, sollte man jedoch Acht geben, dass keine Co-Abhängigkeit daraus resultiert. 

Interessanterweise werden Menschen mit niedrigschwelliger bis kaum vorhandener Empathie häufig pathologisiert, man unterstellt ihnen eine Form des Asperger-Syndroms. Schnell ist man versucht eine neurologische Erklärung für diese Art „emotionaler Behinderung“ zu finden. Allerdings sind die Übergänge zu einem unstrittigen Krankheitsbild so diffus daß der Verdacht naheliegt, dass unsensibles Verhalten mit Schein-Diagnosen entschuldigt werden soll. 

Auffällig ist jedoch, dass Personen mit wenig Einfühlungsvermögen herausstechen, weil sie anecken, ungeliebte Wahrheit offen aussprechen oder mit der Tür ins Haus fallen, ohne die geringste Rücksicht auf ihre Umgebung zu nehmen. Was sich am Verhandlungstisch jedoch als Stärke erweisen kann, mag in persönlichen Beziehungsgeflechten zur Schwäche werden. 

Dahingegen sondieren empathische Menschen in Windeseile die Lage, bevor sie ihre Superpower einsetzen, die für Nichteingeweihte unerkannt bleibt. Mühelos lassen sie sich in jede noch so heterogene Gruppe integrieren. Dieser intuitive Wesenszug kommt dabei sogar auch ohne vorausgehende bewusste Entscheidungsprozesse aus und erfolgt oftmals rein situativ.  Ob die Ursache für ein stark anpassungsfähiges Verhalten einer Veranlagung geschuldet oder in der frühkindlichen Prägung zu suchen ist, kann hier jedoch nicht weiter erörtert werden. Halten wir daher für’s erste fest, dass im Zweifel sowieso immer die Eltern Schuld sind und wenden uns den Symptomen eines besonderen Phänomens zu. 

Neben großen Abgrenzungsschwierigkeiten und dem Wunsch nach Konformität zum Gegenüber kommt bei Empathen auch noch das Bedürfnis hinzu, es stets allen Recht machen zu wollen. Von anderen akzeptiert oder gemocht zu werden, sich zu integrieren und vor allem, nicht aufzufallen ist keine Frage der Toleranz, sondern des eigenen Anpassungswillens. 

Vordergründig gelten empathische Personen als umgänglich, liebenswert, verlässlich und hilfsbereit. Obwohl ihre entgegenkommende Natur ihre Beliebtheit steigert, empfinden sie in ihrem Innern aber selten die erhoffte Genugtuung und Anerkennung, was die Frage aufwirft, welches Maß an Empathie nützlich ist, bevor zu viel Empathie den individuelle Charakter in einer multiplen Persönlichkeitsmaskerade unkenntlich macht. Kann man im pathologischen Sinne zu mitfühlend sein und konstituiert somit ebenfalls ein Extrem? 

Leben die davon betroffenen Personen nicht sogar überwiegend unerkannt, da ein wesentlicher Charakterzug dieses Leidens ja gerade die perfektionierte Verhaltensflexibilität ist? 

Meisterhaft wie Chamäleon-Menschen können manche Menschen ihren Habitus in Sprache, Auftreten und Verhalten ihrer Umwelt anpassen. Als geschulte Beobachter:innen besitzen sie einen umfangreichen Wissensschatz über diverse Gruppen und deren Verhaltensregeln, wissen sich immer angemessen zu benehmen und haben darüber hinaus die Fähigkeit, blitzschnell und situationsbezogen auf Unerwartetes zu reagieren. Routiniert können diese anteilnehmenden Opportunisten unterschiedliche Ansichten vertreten, ihre Haltung modifizieren und dabei durchaus überzeugend sein: Fake it `til you make it! als normatives und jeden Lebensbereich bestimmendes Mantra. 

Nehmen Verhaltensweisen ein derartiges Ausmaß an, so erscheint es angemessen von einer Identitätsstörung zu sprechen. In der Komödie Zelig von 1983 setzen Mia Farrow und Woody Allen die Problematik dieses Syndroms perfekt in Szene. Insbesondere die innere Zerrissenheit der Identitätslosen, die sich in ihrer eigenen, unspezifischen bis beliebigen Persönlichkeit verlieren, wird hier thematisiert. Denn wie jede Beeinträchtigung hat auch adaptives Verhalten seine Nebenwirkungen. Zum einen ist es enorm anstrengend und mithin ermüdend, sich permanent für andere zu bemühen, nur weil man allen gefallen und niemals unangenehm auffallen will.

Ein geringes Selbstwertgefühl, wie auch mangelnde Zufriedenheit mit dem eigenen Selbst scheinen die Wurzel des Übels zu sein, mit dem eine Verunsicherung bezüglich der eigenen Persönlichkeit einhergeht, die alles in Frage stellt und somit der markanten Ausbildung des eigenen Charakters nicht sonderlich viel Spielraum übrig lässt. 

Und egal wie geschickt Chamäleon-Menschen sich verstellen mögen, das Gegenüber wird trotzdem unbewusste und somit widersprüchliche Signale empfangen, was in der Unfähigkeit mündet, authentische Beziehungen aufrechtzuerhalten. Obwohl der vehemente Wunsch nach Anerkennung und Gefallen Alles bestimmend ist, wird gerade dieser in der Regel unerfüllt bleiben. Wer den Betroffenen aber manipulative Absichten unterstellt, tut ihnen unrecht. Ein Großteil ihrer Handlungsweisen läuft im Unterbewusstsein ab und folgt früh erlernten Automatismen, die logisch nur schwer beherrschbar sind, weshalb sich Chamäleon-Menschen meist in einem ständigem Zwiespalt befinden, dem sie nicht selten mit Widerwillen und einem Gefühl von Ohnmacht gegenüber stehen. Erst in der Retrospektive herrscht für die Betroffenen eine gewisse Klarheit über die eigenen Fallstricke. 

Mich fasziniert dieses kaum erkannte Leiden ungemein, da ich mich ebenfalls zu einer milden Form dieser Identitätsstörung bekenne. Zwar könnte man auch entschuldigend argumentieren, dass ich durch meine voranschreitende Sehbehinderung permanent dazu angehalten bin, mich krankheitsbedingten Veränderungen immer wieder neu anzupassen. Die allgemeine Tendenz zu meinem adaptiven Verhalten ließe sich allerdings weitaus früher zurück datieren. Über Jahrzehnte hinweg hatte ich es nie hinterfragt, auf Reisen den Akzent und den Sprachgebrauch einheimischer Personen binnen Kürze mit erstaunlichem Talent zu imitieren. Ob Dialekt, Slang, Tempo oder eine auffallende Betonung, ich sog unterbewusst alles auf und passte mich blitzschnell meinen Mitmenschen oder meinem jeweiligen Gegenüber an. Nur bei Sprachfehlern zog ich eine Grenze. Das solches Verhalten bei manchen Bekannten oder Arbeitskollegen nicht unbedingt auf große Anerkennung oder Gegenliebe traf, musste ich dabei auch erfahren. Denn ausgerechnet Menschen, die für mich reizvolle und wohlklingende Sprachfärbungen haben, sind es auf Dauer leid, eben immer genau darauf angesprochen zu werden. “Geh Schääßen und Schläch di!” wollen sie mir zurufen. Und ob der Handwerker oder die Taxifahrerin es wirklich gut finden, wenn ihnen die Prenzlauer Berger Tussi plötzlich in reinstem Berlinerisch antwortet, sei dahingestellt. 

Auch innerhalb meiner Familie und meines Freundeskreis wähle ich inzwischen aus mehreren reichhaltigen Akzent-Identitäten aus, um diese situativ anzuwenden.
Meinem Sohn schenkte ich beispielsweise einst eine Krokodil-Handpuppe namens Ole, die – wie ich ihm glaubhaft versicherte  – aus Norddeutschland stamme und daher eben kein Hochdeutsch sondern nur norddeutschen Dialekt sprechen könne. Die Tochter einer lieben Freundin von mir findet uns inzwischen aber nur noch peinlich und anstrengend, wenn wir uns in der einen oder der anderen multiplen Persönlichkeit mal so richtig gehen lassen. 

Zwar würde ich nicht so weit gehen, zu behaupten, dass ich auch meine Einstellung oder Meinungen meinem Gegenüber anpasse. Dessen ungeachtet vermag ich das Verlangen nach Akzeptanz und die eng daran geknüpfte Befürchtung nicht gut genug zu sein, aber sehr wohl nachzuvollziehen. Ein klar situationsabhängiges Gefühl, das je nach Beschaffenheit der Komfortzone stark schwankend ausgeprägt ist. Ohne, dass es sich dabei gleich um eine Identitätsstörung handeln muss, besitzen die meisten unter uns multiple Identitäten, die allerdings im Normalfall einer charakterbildenden Persönlichkeit untergeordnet sein sollten: Ich bin Mutter, Freundin, Tochter, Kollegin, albern, traurig, leise, laut. 

Doch nicht alle Identitäten lassen sich so klar beschreiben oder einordnen. So gehöre ich – etwas polemisch gesagt – auch drei Randgruppen an: ich bin eine Frau, alleinerziehend und behindert. In meinem Manuskript widme ich diesem komplexen Thema ein ganzes Kapitel, in dem es unter anderem um die hoch problematische Reduzierung auf eine singuläre Identität geht. Das empfinde ich und viele Leidensgenossinnen mit mir als unzureichend, weil die Reduzierung keiner Rolle gerecht wird und somit auch potentiellen Lösungen den Weg versperrt. 

Umgekehrt führt es dazu, dass ich – nicht immer zu meinem Nachteil – bestimmte Identitäten bediene und somit abwäge, welche mir eher nutzen und welche mir schaden könnten. Um aber den Bogen wieder zurück zur “Identitätsstörung” zu schlagen, muss die entscheidende irgendwann gestellt werden, wie viele verschiedene Identitäten letztlich noch vertretbar sind und ob sich an Habitus, Sprache oder Gestik der Einzelidentitäten bereits ablesen lassen könnte, ob bereits ein Leiden vorliegt? 

Die Spannweite zwischen ultimativem Konformismus und einem gesunden, diversifizierten Selbstverständnis ist groß und eindeutige Parameter sind nur schwer determinierbar. In meinem Fall versuche ich durch kontinuierliches Reflektieren alleine oder auch mit anderen eine Art Supervision herzustellen. Manchmal brauche ich auch die Unterstützung wahrer Freunde, die mir den Kopf gerade rücken. Aufgrund der extrem schwierigen Diagnose müssen wir uns aber wohl darüber im Klaren sein, dass es wesentlich mehr Chamäleon-Menschen gibt als gemeinhin angenommen und daher (nach Richard David Precht) tatsächlich gelten sollte: „Wer bin ich und wenn ja wieviele?“