Ein vorübergehender Umstand?
Stell dir vor, es ist ein Montag im April 2025 und nichts geht mehr. Totalausfall aller Systeme. Kein Strom, kein Netz, kein Internet. Deine erste Reaktion gleicht der Reaktion vieler: Das passiert hier häufiger. Ist nur vorübergehend. Als sich die ersten Anzeichen bemerkbar machen, fragst du dich noch: Ist es nur in meiner Wohnung, meinem Lieblingscafé, im Supermarkt? Dann lauschst du in die totale Stille der eben noch lärmenden Stadt.
Ist die ganze Straße, der ganze Bezirk oder gar die ganze Stadt betroffen?
Du bemerkst das Erstaunen bei Anwohner*innen und Passant*innen, ihr Achselzucken, ihre fragenden Gesichtsausdrücke. Du versuchst zu begreifen, eins und eins zusammenzuzählen – und dann wird es Dir klar. Es ist überall. Vorübergehender Stromausfall. Überall? – fragst du dich. Überall, sagt der eine, ganz Europa.
Quatsch, nur Südeuropa, sagt die nächste. Ein Cyberangriff, heißt es. Ausnahmezustand. Aber woher wollen sie das wissen? Dich erreichen keine Nachrichten mehr und du kannst auch gerade niemanden erreichen. Du machst das Nichtwissen für die Gerüchte verantwortlich und hoffst, dass es vorübergeht. Dann ein kurzer Lichtblick: Fu hast für kurze Zeit Empfang und kannst Dich vergewissern, dass das Kind okay ist und Deine Freunde nicht in der Tiefgarage ausharren müssen. Dann hast du Gewissheit: Ein Totalausfall des Strom- und Kommunikationsnetzes auf der gesamten iberischen Halbinsel. Kann ich noch schnell googeln, was jetzt zu tun ist? Zu spät, kurz darauf wieder Stille, für viele Stunden.
Jemand sagt, du solltest Wasservorräte anlegen. Der vorübergehende Ausfall könnte bis zu 72 Stunden anhalten. Das ist doch viel länger als nur vorübergehend, denkst du. Das ist sehr lange. Du fragst dich, wie lange wohl die bisher gelassen, humorvollen Reaktionen, und wie lange die gegenseitige Hilfsbereitschaft noch andauern wird? Wie lange der Handy-Akku und das bisschen Bargeld ausreichen?
Ob man wohl überhaupt noch etwas bekommt und warum dein Kühlschrank ausgerechnet heute bis auf die Reste des gestrigen Abendessens absolut leer ist? Du kannst nicht wissen, dass derweil schon wieder Streit um das letzte Toilettenpapier, Wasser und Benzin entbrannt ist. Dass manche versucht haben, ihre Geräte heimlich in Krankenhäusern zu laden. Du wirst im Nachhinein aber dankbar für dieses Nichtwissen sein.
Vielleicht solltest du spazieren gehen, weiter am Text arbeiten, ein Audiobuch oder Musik hören? Dein Smartphone-Akku ist inzwischen aber schon auf 38 Prozent runter gesunken. Du hast noch keine Erfahrung darüber, wie lange du es noch über deinen Laptop laden kannst und ob du es überhaupt brauchst?
Es kommt alles darauf an, wie lange vorübergehend ist.
Ein Nachbar meint, vorübergehend könnte auch bis zu einer Woche lang sein.
Das hättest du lieber nicht gehört. Aber jetzt kaust du auf dem Gedanken herum. „Vorübergehend“ als absolute Unbekannte des dominierenden Narrativs.
Wie sie totschlagen, diese Zeit? Aus dem Nachbarhaus hörst du jemanden Bratsche spielen. Wie schön, denkst du und kurz lauschst du seinem Spiel. Wenn du noch gut sehen könntest, würdest du ein gedrucktes Buch lesen, puzzeln, zeichnen oder etwas mit der Hand aufschreiben. Plötzlich fühlst du dich machtlos. Verfluchst die fehlenden Prozent in deinen Augen innerlich. Dann hörst du die Kinder fröhlich auf der Straße spielen, ohne digitale Endgeräte. Geht doch, denkst du und musst schmunzeln.
Du weißt genau, was die anderen sagen werden: Das digitale Fasten zelebrieren, Achtsamkeit praktizieren. Du versuchst es mit Yoga. Aber deine Gedanken schweifen ab. Sie sind beim Kind, bei den 72 Stunden, bei der Frage, wie lange wohl „vorübergehend“ sein wird. Du schaffst es einfach nicht, die Gedanken für einen Moment zur Seite zu schieben. Die Stunden scheinen endlos. Erst als du Gesellschaft hast und ihr euch Geschichten erzählt, wird es endlich besser. Du teilst die Reste von gestern gerecht auf zwei Teller. Es schmeckt besser, wenn man weiß, dass es vorläufig das letzte ist. Ihr beschließt, ein paar Akku-Prozente für ein Hörbuch aufzubrauchen, bis die Sonne langsam untergeht. Wenn es dunkel ist, wirst du überhaupt nichts mehr sehen, deine Augen gewöhnen sich schon lange nicht mehr an die Nacht. Du passt dich den Tageszeiten an und versuchst, zu schlafen. Es gelingt nicht. Grübelnd liegst du im Bett. Dann kurz vor 23 Uhr hörst du es. Erst ein verhaltenes, dann ein deutlicher Jubel, ein frenetisches Feiern. Und dann siehst du es auch. Das Licht im Flur brennt wieder und vorübergehend ist nun vorbei.
Halleluja!