Eine gesunde Feedbackkultur gilt heute nicht nur als wichtig, sondern auch als Zeichen von gegenseitigem Respekt. Idealerweise erfolgt konstruktive Kritik im One-on-One-Gespräch, wobei das Problem in Ich-Botschaften konkret benannt wird, damit man gemeinsam förderliche Lösungsvorschläge finden kann. Ein achtsamer Ton auf Augenhöhe kann dabei wahre Wunder bewirken. Soweit die leicht verständliche Theorie, die jedoch in der angewandten Praxis ihre Tücken hat. Unsere Fähigkeit, Feedback zu geben oder zu empfangen, wird insbesondere dann auf eine harte Probe gestellt, wenn es ums Eingemachte oder empfindliche Problemzonen geht. Stichwort: Körperhygiene oder verbesserungswürdige schlechte Angewohnheiten. Wie sage ich geschätzten Mitarbeitenden, dass das Deo regelmäßig versagt oder dass andere ständig in ihrem Redefluss unterbrochen werden? Verglichen mit Gehaltsverhandlungen, inhaltlichen Differenzen oder dem Dauerbrenner Büro-Küche Sauberhalten, verursacht persönliche Kritik häufig schambesetzte Betroffenheit.
Aber das muss nicht so sein. Eine befreundete Professorin, die lange nach ihrer Pensionierung immer noch Studenten unterrichtete, stellte mir einen ihrer verheißungsvollen Schützlinge vor, der jedoch unglaublich laut sprach und damit regelmäßig für entrückte Blicke sorgte. Kurzentschlossen machte sie ihn im Einzelgespräch darauf aufmerksam und versah ihre Beobachtung mit dem Hinweis, vielleicht mal einen HNO-Arzt aufzusuchen. Auch wenn oder gerade weil der junge Mann dies zum ersten Mal gesagt bekommen hatte, bedankte er sich nur einige Wochen später blumenreich bei meiner Freundin, die hier genau den richtigen Riecher gehabt hatte. Tatsächlich konnte ihm mit einer einfachen Behandlung schnell geholfen werden und er hört und spricht seitdem ganz normal. Doch obwohl, wie in diesem Fall, konstruktive Kritik ein Segen sein kann, tun wir uns oft so schwer, ringen um die richtigen Worte, schieben es auf und würden die Angelegenheit am liebsten an gestandene ältere Damen delegieren.
Beneidenswert hingegen die hemmungslose Aufrichtigkeit, die Kinder für gewöhnlich an den Tag legen. “Warum brauchst du diesen weißen Stock?“ “Siehst du überhaupt, dass ich dir die Zunge rausstrecke?““ oder “Darf ich mal mit dir verstecken spielen?” Beflügelnde Offenheit, auch wenn diese in unzähligen Momenten der oben erwähnten Forderung nach achtsamer sowie konstruktiver Kritik nur selten entspricht. Kinder besitzen die beispiellose Fähigkeit, in den unpassendsten Augenblicken die Wahrheit zu sagen: “Mein Vater ist nur mal wieder vorbeigekommen, um sich ins Gespräch zu bringen.” “Damit er beim nächsten Mal wieder engagiert wird.” Prompt wissen alle Anwesenden Bescheid und man kann sich das geschickte Taktieren sparen. Kinder hören wesentlich häufiger bei Unterhaltungen zu, als es uns lieb ist. Wenn wir in ihrem Beisein von Personen sprechen und dabei auch noch missverständliche Fremdwörter verwenden, ist also Vorsicht geboten: “Unser Trainer hat gesagt, der Vereinschef ist ein Alkoholiker” heißt es plötzlich. Verwirrt bitten wir um eine Klärung des Sachverhalts. “Naja, der ist eben immer sehr schnell wütend, rastet aus und schreit dann alle an!”
Frei nach dem Motto Kindermund tut Wahrheit kund erscheint es den Kleinsten nicht abwegig, die Kritik genau dort anzubringen, wo sie hingehört: “Meine Eltern meinen, Männer mit dröhnend lauten Motoren haben kleine Pimmel!” oder “Oma sagt, Du bist eine richtige Hexe!“ “Stimmt das?” Inständig hoffen wir als Eltern, dass gewisse intime Probleme das Badezimmer nicht verlassen, während Kinder es eher mit ausgesprochener Transparenz halten: “Bei uns hatten gerade alle die Stuhlwürmer!”
Wenn es um die korrekte Angabe entscheidender Fakten geht, haben vor allem kleine Gernegroße klare Grenzen, deren Einhaltung streng überprüft wird.“Stimmt ja gar nicht!” “Ich bin schon 6 Jahre alt!” Wesentlich großzügiger handhaben sie mit ungebetenen Feststellungen, für die ihnen scheinbar jedes Feingefühl oder richtiges Timing fehlt. Scharf beobachtet bekommen wir anstelle von aggressionsfreier Sprache ihr gnadenloses Urteil serviert: “Mami, in dem Kleid siehst du häßlich aus!” oder eben „Igitt!” “Du hast Mundgeruch!” Bei so viel ungeschönter Ehrlichkeit fällt es mitunter schwer, die eigene Body-Positivity aufrechtzuerhalten. Hier gilt es nicht überempfindlich zu sein. Und da wir unseren über alles geliebten Knalltüten alles verzeihen, verweisen wir, nicht ohne Stolz, auf die Situationskomik dieser Betrachtung. Humor als Higher Ground eben.
Interessanterweise folgt die Wahrheitsliebe der lieben Kleinen einem auffallend selektiven Muster und kann sogar ins komplette Gegenteil verkehrt werden. Fragt man beispielsweise nach erledigten Hausaufgaben oder dem verabredeten Spielekonsole-Konsum, setzen die Wahrheitsexperten ein unschuldiges Engelsgesicht auf und lügen uns unverfroren an. Demnach bleibt absolute Wahrheit und grenzenlose Kritikfähigkeit unter uns Menschen eine Utopie und das ist gemeinhin auch gut so. Im Durchschnitt behalten wir 9 von 10 Gedanken für uns, ohne sie jemals zu äußern und unterziehen jene Überlegungen, die veröffentlichungswürdig sind, nicht selten einer nochmaligen Zensur. Wir wägen ab, beziehen den Kontext und Anwesende mit ein und versuchen, respektvoll miteinander umzugehen. Werden diese erwachsenen Konventionen außer Kraft gesetzt, ist die daraus resultierende Eskalation vorprogrammiert. Aus diesem Grund überlassen wir das Feld der aufrichtigen Ehrlichkeit den Kindern, die arglos ihre Meinung kund tun sollten, nicht zuletzt, um uns damit regelmäßig zu erheitern.
„Mami, Du hast Mundgeruch!“
Eine gesunde Feedbackkultur gilt heute nicht nur als wichtig, sondern auch als Zeichen von gegenseitigem Respekt. Idealerweise erfolgt konstruktive Kritik im One-on-One-Gespräch, wobei das Problem in Ich-Botschaften konkret benannt wird, damit man gemeinsam förderliche Lösungsvorschläge finden kann. Ein achtsamer Ton auf Augenhöhe kann dabei wahre Wunder bewirken. Soweit die leicht verständliche Theorie, die jedoch in der angewandten Praxis ihre Tücken hat. Unsere Fähigkeit, Feedback zu geben oder zu empfangen, wird insbesondere dann auf eine harte Probe gestellt, wenn es ums Eingemachte oder empfindliche Problemzonen geht. Stichwort: Körperhygiene oder verbesserungswürdige schlechte Angewohnheiten. Wie sage ich geschätzten Mitarbeitenden, dass das Deo regelmäßig versagt oder dass andere ständig in ihrem Redefluss unterbrochen werden? Verglichen mit Gehaltsverhandlungen, inhaltlichen Differenzen oder dem Dauerbrenner Büro-Küche Sauberhalten, verursacht persönliche Kritik häufig schambesetzte Betroffenheit.
Aber das muss nicht so sein. Eine befreundete Professorin, die lange nach ihrer Pensionierung immer noch Studenten unterrichtete, stellte mir einen ihrer verheißungsvollen Schützlinge vor, der jedoch unglaublich laut sprach und damit regelmäßig für entrückte Blicke sorgte. Kurzentschlossen machte sie ihn im Einzelgespräch darauf aufmerksam und versah ihre Beobachtung mit dem Hinweis, vielleicht mal einen HNO-Arzt aufzusuchen. Auch wenn oder gerade weil der junge Mann dies zum ersten Mal gesagt bekommen hatte, bedankte er sich nur einige Wochen später blumenreich bei meiner Freundin, die hier genau den richtigen Riecher gehabt hatte. Tatsächlich konnte ihm mit einer einfachen Behandlung schnell geholfen werden und er hört und spricht seitdem ganz normal. Doch obwohl, wie in diesem Fall, konstruktive Kritik ein Segen sein kann, tun wir uns oft so schwer, ringen um die richtigen Worte, schieben es auf und würden die Angelegenheit am liebsten an gestandene ältere Damen delegieren.
Beneidenswert hingegen die hemmungslose Aufrichtigkeit, die Kinder für gewöhnlich an den Tag legen. “Warum brauchst du diesen weißen Stock?“ “Siehst du überhaupt, dass ich dir die Zunge rausstrecke?““ oder “Darf ich mal mit dir verstecken spielen?” Beflügelnde Offenheit, auch wenn diese in unzähligen Momenten der oben erwähnten Forderung nach achtsamer sowie konstruktiver Kritik nur selten entspricht. Kinder besitzen die beispiellose Fähigkeit, in den unpassendsten Augenblicken die Wahrheit zu sagen: “Mein Vater ist nur mal wieder vorbeigekommen, um sich ins Gespräch zu bringen.” “Damit er beim nächsten Mal wieder engagiert wird.” Prompt wissen alle Anwesenden Bescheid und man kann sich das geschickte Taktieren sparen. Kinder hören wesentlich häufiger bei Unterhaltungen zu, als es uns lieb ist. Wenn wir in ihrem Beisein von Personen sprechen und dabei auch noch missverständliche Fremdwörter verwenden, ist also Vorsicht geboten: “Unser Trainer hat gesagt, der Vereinschef ist ein Alkoholiker” heißt es plötzlich. Verwirrt bitten wir um eine Klärung des Sachverhalts. “Naja, der ist eben immer sehr schnell wütend, rastet aus und schreit dann alle an!”
Frei nach dem Motto Kindermund tut Wahrheit kund erscheint es den Kleinsten nicht abwegig, die Kritik genau dort anzubringen, wo sie hingehört: “Meine Eltern meinen, Männer mit dröhnend lauten Motoren haben kleine Pimmel!” oder “Oma sagt, Du bist eine richtige Hexe!“ “Stimmt das?” Inständig hoffen wir als Eltern, dass gewisse intime Probleme das Badezimmer nicht verlassen, während Kinder es eher mit ausgesprochener Transparenz halten: “Bei uns hatten gerade alle die Stuhlwürmer!”
Wenn es um die korrekte Angabe entscheidender Fakten geht, haben vor allem kleine Gernegroße klare Grenzen, deren Einhaltung streng überprüft wird.“Stimmt ja gar nicht!” “Ich bin schon 6 Jahre alt!” Wesentlich großzügiger handhaben sie mit ungebetenen Feststellungen, für die ihnen scheinbar jedes Feingefühl oder richtiges Timing fehlt. Scharf beobachtet bekommen wir anstelle von aggressionsfreier Sprache ihr gnadenloses Urteil serviert: “Mami, in dem Kleid siehst du häßlich aus!” oder eben „Igitt!” “Du hast Mundgeruch!” Bei so viel ungeschönter Ehrlichkeit fällt es mitunter schwer, die eigene Body-Positivity aufrechtzuerhalten. Hier gilt es nicht überempfindlich zu sein. Und da wir unseren über alles geliebten Knalltüten alles verzeihen, verweisen wir, nicht ohne Stolz, auf die Situationskomik dieser Betrachtung. Humor als Higher Ground eben.
Interessanterweise folgt die Wahrheitsliebe der lieben Kleinen einem auffallend selektiven Muster und kann sogar ins komplette Gegenteil verkehrt werden. Fragt man beispielsweise nach erledigten Hausaufgaben oder dem verabredeten Spielekonsole-Konsum, setzen die Wahrheitsexperten ein unschuldiges Engelsgesicht auf und lügen uns unverfroren an. Demnach bleibt absolute Wahrheit und grenzenlose Kritikfähigkeit unter uns Menschen eine Utopie und das ist gemeinhin auch gut so. Im Durchschnitt behalten wir 9 von 10 Gedanken für uns, ohne sie jemals zu äußern und unterziehen jene Überlegungen, die veröffentlichungswürdig sind, nicht selten einer nochmaligen Zensur. Wir wägen ab, beziehen den Kontext und Anwesende mit ein und versuchen, respektvoll miteinander umzugehen. Werden diese erwachsenen Konventionen außer Kraft gesetzt, ist die daraus resultierende Eskalation vorprogrammiert. Aus diesem Grund überlassen wir das Feld der aufrichtigen Ehrlichkeit den Kindern, die arglos ihre Meinung kund tun sollten, nicht zuletzt, um uns damit regelmäßig zu erheitern.