“Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”

7. Feb 2023

Mir erscheint Marcel Prousts vielsagender Titel überaus passend, während gerade viel von der Zeit die Rede ist, der Kanzler sogar eine Zeitenwende ausgerufen hat, und auch meine Gedanken häufig um die vielen Widersprüche unserer Zeit kreisen. Mal ist sie unendlich langsam und dann vergeht sie wieder blitzschnell, mal wird sie als abstrakte Größe und ein anderes Mal als ein konkreter Zeitpunkt beschrieben. Mal be-, mal entschleunigt, war sie für Newton eine mathematische Konstante, und für Einstein relativ.
Diese “Paradoxie aller Zeiterfahrungen” wird laut der DLF-Reihe Essay & Diskurs vom digitalen Zeitalter deutlich beeinflusst. Da alle Informationen immer sofort verfügbar sind, scheint alles immer schneller zu werden, denn alles gerät auch ebenso schnell wieder in Vergessenheit. Zeit wird quantitativ in Algorithmen und monetären Werten statt in der erstrebenswerten Quality-Time bewertet. Auch in meiner Reihe Digitale Verzweiflung ist bereits angeklungen, dass wir uns durch technologische Errungenschaften einen Zeitgewinn versprechen, welcher jedoch nicht selten mit gleichzeitigem Zeitverlust einhergeht. Wenn ich beispielsweise in einem Kaufhaus erst einmal Hilfe suchen muss, weil das Self-Checkout- Terminal nicht barrierefrei ist, verliere nicht nur ich viel Zeit, sondern auch die Angestellten manchmal die Geduld. 

Trotz übertrieben optimierter Zeitgestaltung reißt die Klage über mangelnde Zeit nicht ab, wünschen sich doch alle ständig mehr davon und leiden infolgedessen unter Stress und/oder Reizüberflutung aufgrund der Dichte zeitgleicher Geschehnisse. Doch auch zu viel Zeit kann problematisch sein. Im oben angeteaserten Essay heißt es dazu: “Wer keine Zeit hat, bezeugt sein Beschäftigtsein und beweist damit scheinbar seine Überlegenheit und Macht. Wer über zu viel Zeit verfügt, gibt hingegen womöglich seine Ohnmacht und soziale Unzugehörigkeit preis.” Solange das Prinzip Zeit ist Geld unser Denken und Handeln bestimmt, braucht es keine zigarrerauchenden, grauen Herren, um zu begreifen, was an diesem Bild nicht stimmt. Müssen wir uns nicht vielmehr fragen, ob diese Einstellung ein überkommenes Relikt der industriellen Revolution ist, in dem ein selbstbestimmtes Leben nur denjenigen vergönnt ist, die über die kostbare Ressource Zeit frei verfügen können? Technikgläubig preisen wir Effizienz und Einsparung, wirken aber dem Anschein nach kein bisschen entspannt, sondern abgehetzt, getrieben und der Zeit hinterher laufend.

Mein persönliches Zeit-Paradoxon besteht darin, dass ich inzwischen für triviale Alltagshandlungen wesentlich mehr Zeit einplanen und eine geradezu sorgfältige Gelassenheit an den Tag legen muss. Diese Entdeckung der Langsamkeit steht allerdings im krassen Widerspruch zu der Frage, wie viel Zeit mir noch bleibt, bis die Dunkelheit übernimmt? Was sollte, was möchte ich bis dahin noch gesehen oder erlebt, was muss ich bis dahin gelernt und erledigt haben? Verstrickt in einen inneren Konflikt aus zweckmäßiger Achtsamkeit und offensichtlicher Versäumnisangst habe ich hierfür noch kein Patentrezept parat. Während ich gegenwärtig versuche, nicht den Überblick zu verlieren, ist es für mich so gut wie unmöglich, die unausweichlichen Konsequenzen in der Zukunft auszublenden. Und das, was sich durch die fortschreitenden Einschränkungen ändern wird, beeinflusst mich und mein Umfeld direkt, ohne dass ich an den Tatsachen etwas verändern könnte. Diese nicht quantifizierbare Gegenwart, die ihre Aufmerksamkeit auf eigene und fremde Bedürfnisse des Selbst und der Umwelt richtet, erfordert ein Innehalten, Ruhe bewahren, aber eben auch einfach Zeit. 

Doch abseits von alternativlosen Zuständen, die eine Reorganisation der Zeit erfordern, haben die freie Zeitgestaltung oder der reflektierte Müßiggang ein schlechtes Ansehen und werden oftmals als Faulheit oder mangelnde Zielstrebigkeit ausgelegt. Ein typisches Beispiel hierfür ist die aktuell geführte Debatte um das Quiet Quittin, womit namentlich nicht die “innere Kündigung” gemeint ist, wie die direkte Übersetzung vermuten lassen würde. Inzwischen werden mit diesem Begriff vermeintlich schlechte Arbeitnehmereigenschaften wie Dienst nach Vorschrift, Work-Life-Balance oder die Reduzierung von Wochenarbeitsstunden beschrieben, die in Arbeitgeberkreisen angesichts des Fachkräftemangels eher unbeliebt sind. Mir stößt diese vorwurfsvolle Lesart übel auf, da ja an einer gesunden Einstellung zur Erwerbstätigkeit und einer möglichen Verschiebung der Prioritäten überhaupt nichts auszusetzen ist. Es wird differenziert, ob die frei verfügte Zeit für ein Ehrenamt, Carearbeit, eine Zusatzqualifikation oder ein kulturell wertvolles Hobby genutzt wird. Diffuse Motive aber, die dem Vernehmen nach nicht zum Erhalt der persönlichen oder allgemeinen Leistungsbereitschaft beitragen, stoßen auf Unverständnis und man riskiert, den Stempel ein Quiet Quitter zu sein.. 

Als junge Berufsanfänger arbeitete ich rückblickend aufopferungsvoll in mittelprächtig bezahlten Jobs, machte unzählige, unbezahlte Überstunden und empfand ungesunde Hierarchiestrukturen als Selbstverständlichkeit, die nunmal ein dickes Fell erforderten. Getrieben vom Aufstiegsversprechen, dass die Anstrengungen sich irgendwann irgendwie lohnen und die verdiente Anerkennung eines Tages noch folgen würde, musste ich leider nur regelmäßig feststellen, dass am Ende des Geldes immer noch ganz viel Monat übrig war. Richtet man den Blick auf die Metaebene fällt auf, dass weniger privilegierte Menschen, als Dienstleistung getarnte, ausbeuterische Niedriglohnjobs erledigen, damit wir eine Ware innerhalb weniger Stunden oder etwas Essbares binnen 15 Minuten nach Hause geliefert bekommen. Natürlich nur, um uns kostbare Zeit zu sparen. 

Es wäre interessant, zu klären, was wir letztlich eigentlich mit all der eingesparten und optimierten Zeit anfangen und an welcher Stelle frei gewordene Potenziale tatsächlich zu einer Problemlösung beigetragen haben? Ist darüber hinaus nicht längst erwiesen, dass die meisten Menschen eine klar definierte Leistungsgrenze haben und nur dann innovative und konstruktive Höchstleistungen erbringen können, wenn sie ausreichend Zeit für Müßiggang und Langeweile haben? Bekanntlich hat Albert Einstein seine Relativitätstheorie in einem Schweizer Patentamt entwickelt, wo er sich unfassbar gelangweilt hat. Vielleicht ist es im Rahmen der vielzitierten Zeitenwende angezeigt, ein neues Zeitverständnis zu entwerfen. Die geltenden Bedeutungen von Zeit sollten nicht absolut, sondern vielmehr in gleichzeitiger Relation zu der Zeit anderer Leben stehen. 

Wenn ich meinem Vergangenheits-Ich als Berufseinsteigerin einen Rat hätte geben können, so hätte ich ihr zu einem Zeitempfinden geraten, das sich mir tragischerweise erst durch eine disruptive Krankheitserfahrung offenbart hat. Den Moment zu genießen, so gut es geht. Dieses Zeitempfinden nun wieder neu an die unbeständigen Umstände anzupassen, ist heutzutage ein wesentlicher Bestandteil meines Akzeptanzprozesses. Dabei empfinde ich es aber als das Privileg, das es tatsächlich ist, mir für alles mehr Zeit nehmen zu müssen und auch zu können, und auf diese Weise der allgemeinen Alltagshektik teilweise entrückt zu sein.

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Quelle: 

Aus DLF Mediathek, Essay und Diskurs | Paradoxie aller Zeiterfahrung | Von Zeitgewinn und Zeitverlust https://share.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.html?audio_id=dira_DLF_4ddbb06cTurn On Builder[Edit]

“Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”

Mir erscheint Marcel Prousts vielsagender Titel überaus passend, während gerade viel von der Zeit die Rede ist, der Kanzler sogar eine Zeitenwende ausgerufen hat, und auch meine Gedanken häufig um die vielen Widersprüche unserer Zeit kreisen. Mal ist sie unendlich langsam und dann vergeht sie wieder blitzschnell, mal wird sie als abstrakte Größe und ein anderes Mal als ein konkreter Zeitpunkt beschrieben. Mal be-, mal entschleunigt, war sie für Newton eine mathematische Konstante, und für Einstein relativ.
Diese “Paradoxie aller Zeiterfahrungen” wird laut der DLF-Reihe Essay & Diskurs vom digitalen Zeitalter deutlich beeinflusst. Da alle Informationen immer sofort verfügbar sind, scheint alles immer schneller zu werden, denn alles gerät auch ebenso schnell wieder in Vergessenheit. Zeit wird quantitativ in Algorithmen und monetären Werten statt in der erstrebenswerten Quality-Time bewertet. Auch in meiner Reihe Digitale Verzweiflung ist bereits angeklungen, dass wir uns durch technologische Errungenschaften einen Zeitgewinn versprechen, welcher jedoch nicht selten mit gleichzeitigem Zeitverlust einhergeht. Wenn ich beispielsweise in einem Kaufhaus erst einmal Hilfe suchen muss, weil das Self-Checkout- Terminal nicht barrierefrei ist, verliere nicht nur ich viel Zeit, sondern auch die Angestellten manchmal die Geduld. 

Trotz übertrieben optimierter Zeitgestaltung reißt die Klage über mangelnde Zeit nicht ab, wünschen sich doch alle ständig mehr davon und leiden infolgedessen unter Stress und/oder Reizüberflutung aufgrund der Dichte zeitgleicher Geschehnisse. Doch auch zu viel Zeit kann problematisch sein. Im oben angeteaserten Essay heißt es dazu: “Wer keine Zeit hat, bezeugt sein Beschäftigtsein und beweist damit scheinbar seine Überlegenheit und Macht. Wer über zu viel Zeit verfügt, gibt hingegen womöglich seine Ohnmacht und soziale Unzugehörigkeit preis.” Solange das Prinzip Zeit ist Geld unser Denken und Handeln bestimmt, braucht es keine zigarrerauchenden, grauen Herren, um zu begreifen, was an diesem Bild nicht stimmt. Müssen wir uns nicht vielmehr fragen, ob diese Einstellung ein überkommenes Relikt der industriellen Revolution ist, in dem ein selbstbestimmtes Leben nur denjenigen vergönnt ist, die über die kostbare Ressource Zeit frei verfügen können? Technikgläubig preisen wir Effizienz und Einsparung, wirken aber dem Anschein nach kein bisschen entspannt, sondern abgehetzt, getrieben und der Zeit hinterher laufend.

Mein persönliches Zeit-Paradoxon besteht darin, dass ich inzwischen für triviale Alltagshandlungen wesentlich mehr Zeit einplanen und eine geradezu sorgfältige Gelassenheit an den Tag legen muss. Diese Entdeckung der Langsamkeit steht allerdings im krassen Widerspruch zu der Frage, wie viel Zeit mir noch bleibt, bis die Dunkelheit übernimmt? Was sollte, was möchte ich bis dahin noch gesehen oder erlebt, was muss ich bis dahin gelernt und erledigt haben? Verstrickt in einen inneren Konflikt aus zweckmäßiger Achtsamkeit und offensichtlicher Versäumnisangst habe ich hierfür noch kein Patentrezept parat. Während ich gegenwärtig versuche, nicht den Überblick zu verlieren, ist es für mich so gut wie unmöglich, die unausweichlichen Konsequenzen in der Zukunft auszublenden. Und das, was sich durch die fortschreitenden Einschränkungen ändern wird, beeinflusst mich und mein Umfeld direkt, ohne dass ich an den Tatsachen etwas verändern könnte. Diese nicht quantifizierbare Gegenwart, die ihre Aufmerksamkeit auf eigene und fremde Bedürfnisse des Selbst und der Umwelt richtet, erfordert ein Innehalten, Ruhe bewahren, aber eben auch einfach Zeit. 

Doch abseits von alternativlosen Zuständen, die eine Reorganisation der Zeit erfordern, haben die freie Zeitgestaltung oder der reflektierte Müßiggang ein schlechtes Ansehen und werden oftmals als Faulheit oder mangelnde Zielstrebigkeit ausgelegt. Ein typisches Beispiel hierfür ist die aktuell geführte Debatte um das Quiet Quittin, womit namentlich nicht die “innere Kündigung” gemeint ist, wie die direkte Übersetzung vermuten lassen würde. Inzwischen werden mit diesem Begriff vermeintlich schlechte Arbeitnehmereigenschaften wie Dienst nach Vorschrift, Work-Life-Balance oder die Reduzierung von Wochenarbeitsstunden beschrieben, die in Arbeitgeberkreisen angesichts des Fachkräftemangels eher unbeliebt sind. Mir stößt diese vorwurfsvolle Lesart übel auf, da ja an einer gesunden Einstellung zur Erwerbstätigkeit und einer möglichen Verschiebung der Prioritäten überhaupt nichts auszusetzen ist. Es wird differenziert, ob die frei verfügte Zeit für ein Ehrenamt, Carearbeit, eine Zusatzqualifikation oder ein kulturell wertvolles Hobby genutzt wird. Diffuse Motive aber, die dem Vernehmen nach nicht zum Erhalt der persönlichen oder allgemeinen Leistungsbereitschaft beitragen, stoßen auf Unverständnis und man riskiert, den Stempel ein Quiet Quitter zu sein.. 

Als junge Berufsanfänger arbeitete ich rückblickend aufopferungsvoll in mittelprächtig bezahlten Jobs, machte unzählige, unbezahlte Überstunden und empfand ungesunde Hierarchiestrukturen als Selbstverständlichkeit, die nunmal ein dickes Fell erforderten. Getrieben vom Aufstiegsversprechen, dass die Anstrengungen sich irgendwann irgendwie lohnen und die verdiente Anerkennung eines Tages noch folgen würde, musste ich leider nur regelmäßig feststellen, dass am Ende des Geldes immer noch ganz viel Monat übrig war. Richtet man den Blick auf die Metaebene fällt auf, dass weniger privilegierte Menschen, als Dienstleistung getarnte, ausbeuterische Niedriglohnjobs erledigen, damit wir eine Ware innerhalb weniger Stunden oder etwas Essbares binnen 15 Minuten nach Hause geliefert bekommen. Natürlich nur, um uns kostbare Zeit zu sparen. 

Es wäre interessant, zu klären, was wir letztlich eigentlich mit all der eingesparten und optimierten Zeit anfangen und an welcher Stelle frei gewordene Potenziale tatsächlich zu einer Problemlösung beigetragen haben? Ist darüber hinaus nicht längst erwiesen, dass die meisten Menschen eine klar definierte Leistungsgrenze haben und nur dann innovative und konstruktive Höchstleistungen erbringen können, wenn sie ausreichend Zeit für Müßiggang und Langeweile haben? Bekanntlich hat Albert Einstein seine Relativitätstheorie in einem Schweizer Patentamt entwickelt, wo er sich unfassbar gelangweilt hat. Vielleicht ist es im Rahmen der vielzitierten Zeitenwende angezeigt, ein neues Zeitverständnis zu entwerfen. Die geltenden Bedeutungen von Zeit sollten nicht absolut, sondern vielmehr in gleichzeitiger Relation zu der Zeit anderer Leben stehen. 

Wenn ich meinem Vergangenheits-Ich als Berufseinsteigerin einen Rat hätte geben können, so hätte ich ihr zu einem Zeitempfinden geraten, das sich mir tragischerweise erst durch eine disruptive Krankheitserfahrung offenbart hat. Den Moment zu genießen, so gut es geht. Dieses Zeitempfinden nun wieder neu an die unbeständigen Umstände anzupassen, ist heutzutage ein wesentlicher Bestandteil meines Akzeptanzprozesses. Dabei empfinde ich es aber als das Privileg, das es tatsächlich ist, mir für alles mehr Zeit nehmen zu müssen und auch zu können, und auf diese Weise der allgemeinen Alltagshektik teilweise entrückt zu sein.

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Quelle: 

Aus DLF Mediathek, Essay und Diskurs | Paradoxie aller Zeiterfahrung | Von Zeitgewinn und Zeitverlust https://share.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.html?audio_id=dira_DLF_4ddbb06c