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„Erst kommt das Fressen, dann die Moral!“

21. Jan 2023

Ob bei festlichen Essenseinladungen oder privat  in der Küche – am Tisch meines Vaters gab es neben den üblichen Tischmanieren eine wichtige Regel: Während des Essens wird nicht über das Essen gesprochen! Ganz gleich, ob etwas köstlich, ungenießbar oder aufgrund von Unverträglichkeiten schwer verdaulich ist, trifft jeder selbstbestimmt seine Genußentscheidungen im Stillen. Wenn keiner essen muss, was auf den Tisch kommt, bietet auch ein kaum angerührter Teller keinen Anlass, sich dieser Regel zu widersetzen. Die gemeinsame Nahrungsaufnahme wird als eine mal mehr, oder  mal weniger angenehme Nebensache eingestuft, bei der ein beiläufiger Dank an die Küche ausreicht, um das Thema erschöpfend abzuschließen. Weitaus wichtiger ist es jedoch, sich auf das eigentliche Tischgespräch, das thematisch zwischen Krieg & Frieden und Liebe in Lokalen liegen darf, zu konzentrieren, inhaltlich zu punkten und keinesfalls auf den vollen Mund gefallen zu sein. Handelt es sich bei dieser Sitte nun um ein überflüssiges Relikt längst überkommener Traditionen oder könnte man angesichts allgegenwärtiger Essen-Blogs, Foodporn, widersprüchlicher Ernährungsratgeber sowie einer unübersichtlichen Anzahl von Lebensmittelunverträglichkeiten dieser simplen Konvention etwas Gehaltvolles abgewinnen? 

Ehrlicherweise verspüre ich akute Langeweile sobald selbsternannte Ernährungsexpert*innen mit Begriffen wie Intervallfasten, Ketose, Laktose oder Palio jonglieren, dabei Nahrungsergänzungsmittel nebst Superfoods anpreisen bis mir schwindelig wird, um dann allen Ernstes zu behaupten, dass es einen signifikanten Unterschied macht, wenn eine fair gehandelte Kakaobohne achtsam zubereitet und verköstigt wird. Dem eigenen Körper diese übertriebene Aufmerksamkeit zuteil kommen zu lassen, löst bei mir den Liebermannschen Reflex aus, weshalb Ich gar nicht so viel fressen kann, wie ich kotzen möchte. Tatsächlich sehne ich mich dann sogar an den strengen Tisch des Vaters zurück, hatte dieser bis zu seinem Tod keine Ahnung, welche Ausmaße das hoch komplizierte Thema Essen heutzutage einnehmen würde. 

Scheinbar avanciert die dogmatisch vertretene Einstellung zur Nahrungsaufnahme und das damit einhergehende Körpergefühl zu einer Art Lifehack und wird nur allzu gerne mit einem politischen Statement verwechselt. Zwischen Leipziger Allerlei, Crème Anglaise und Kosakenzipfel könnte man der Idee verfallen, dass Essen politisch sei oder zumindest eine moralische Komponente hat, die nicht selten mit Scham belegt ist. In Zeiten ungerecht verteilter Ressourcen und Völlerei im Überfluss ist das nicht ganz von der Hand zu weisen, rechtfertigt aber keinesfalls seine Mitmenschen mit allem, was irgendwo rein und auf anderem Wege wieder rauskommt, zu belästigen. 

Diese Form von Hyper-Individualismus, der sich auf viele andere unserer saturierten Lebensweisen übertragen läßt, verkörpert das Eingeständnis des Scheiterns und unterstreicht die Unfähigkeit, eine Unterhaltung anzuregen, bei der die komfortable Zone achtsamer Selbstverwirklichung verlassen werden muss. Oder handelt es sich in Zeiten von aufeinanderfolgenden Dauerkrisen um den resignierten Ausdruck wahrer Hilflosigkeit und Überforderung? Wenn wir uns dem Gefühl hingeben, dass wir der Eskalation nichts mehr entgegenzusetzen haben, sehnen wir uns im Rahmen einer Enttäuschungsprophylaxe nach dem Versuch von Selbstwirksamkeit. Wir suchen den Pause-Button für Probleme, blenden aus, verdrängen und bezeichnen uns als unpolitisch. Da die auf uns bezogene Wirkmacht Erfolge wahrhaft spürbar macht, sitzen wir dem Glauben auf, dass Selbstwirksamkeit, Selbstliebe oder Selbstachtung auch nach außen hin Wirkung zeigen. Aber wo soll das langfristig hinführen und wem ist damit wirklich gedient?

Als namhafte Vertreter*innen des Existentialismus wie Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre oder Albert Camus Mitte des letzten Jahrhunderts eine humanistische Wesensbestimmung ins Zentrum ihrer Betrachtungen rückten, war damit der Fokus auf die Hinwendung zu der individuellen Existenz eines Vernunftwesens gemeint. Statt jedoch lediglich im eigenen Selbst zu existieren, bildet sich eine wahrhafte Existenz eben nur im Zusammenspiel mit menschlichen Erfahrungen wie Verantwortung, Freiheit, Angst, Tod oder Handeln heraus. Die Aussage “Der Mensch versteht sich selbst nur im Erleben seiner selbst” verweist auf das Moment der Selbstbestimmung, das im Kontext einer Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen oder dem Klassismus gesehen werden muss und demnach vor allem ein egalitäres Ideal anstrebt. Demnach scheint die Hinwendung zum Selbst stark davon abhängig zu sein, ob sie nachhaltig wirkmächtig werden kann. 

Um die Moral nicht überzustrapazieren, sollte sie dem Fressen vor – oder nachgelagert sein, liegt der Schlüssel wie immer in einem maßvollen Mittel, das den Blick über den Tellerrand nicht versperrt. Während einer Unterhaltung am Tisch kann ich mich beispielsweise dafür begeistern, wenn jemand von einer bewegenden Begegnung erzählt, ein inspirierendes Buch, Theaterstück oder Konzert empfehlen kann und eine Haltung zu aktuellen Krisen, gesellschaftlichen Strömungen und politischen Akteuren hat – oder eben auch mal einen geistreichen Witz erzählen kann.
Wohl bekomms! 

„Erst kommt das Fressen, dann die Moral!“

Ob bei festlichen Essenseinladungen oder privat  in der Küche – am Tisch meines Vaters gab es neben den üblichen Tischmanieren eine wichtige Regel: Während des Essens wird nicht über das Essen gesprochen! Ganz gleich, ob etwas köstlich, ungenießbar oder aufgrund von Unverträglichkeiten schwer verdaulich ist, trifft jeder selbstbestimmt seine Genußentscheidungen im Stillen. Wenn keiner essen muss, was auf den Tisch kommt, bietet auch ein kaum angerührter Teller keinen Anlass, sich dieser Regel zu widersetzen. Die gemeinsame Nahrungsaufnahme wird als eine mal mehr, oder  mal weniger angenehme Nebensache eingestuft, bei der ein beiläufiger Dank an die Küche ausreicht, um das Thema erschöpfend abzuschließen. Weitaus wichtiger ist es jedoch, sich auf das eigentliche Tischgespräch, das thematisch zwischen Krieg & Frieden und Liebe in Lokalen liegen darf, zu konzentrieren, inhaltlich zu punkten und keinesfalls auf den vollen Mund gefallen zu sein. Handelt es sich bei dieser Sitte nun um ein überflüssiges Relikt längst überkommener Traditionen oder könnte man angesichts allgegenwärtiger Essen-Blogs, Foodporn, widersprüchlicher Ernährungsratgeber sowie einer unübersichtlichen Anzahl von Lebensmittelunverträglichkeiten dieser simplen Konvention etwas Gehaltvolles abgewinnen? 

Ehrlicherweise verspüre ich akute Langeweile sobald selbsternannte Ernährungsexpert*innen mit Begriffen wie Intervallfasten, Ketose, Laktose oder Palio jonglieren, dabei Nahrungsergänzungsmittel nebst Superfoods anpreisen bis mir schwindelig wird, um dann allen Ernstes zu behaupten, dass es einen signifikanten Unterschied macht, wenn eine fair gehandelte Kakaobohne achtsam zubereitet und verköstigt wird. Dem eigenen Körper diese übertriebene Aufmerksamkeit zuteil kommen zu lassen, löst bei mir den Liebermannschen Reflex aus, weshalb Ich gar nicht so viel fressen kann, wie ich kotzen möchte. Tatsächlich sehne ich mich dann sogar an den strengen Tisch des Vaters zurück, hatte dieser bis zu seinem Tod keine Ahnung, welche Ausmaße das hoch komplizierte Thema Essen heutzutage einnehmen würde. 

Scheinbar avanciert die dogmatisch vertretene Einstellung zur Nahrungsaufnahme und das damit einhergehende Körpergefühl zu einer Art Lifehack und wird nur allzu gerne mit einem politischen Statement verwechselt. Zwischen Leipziger Allerlei, Crème Anglaise und Kosakenzipfel könnte man der Idee verfallen, dass Essen politisch sei oder zumindest eine moralische Komponente hat, die nicht selten mit Scham belegt ist. In Zeiten ungerecht verteilter Ressourcen und Völlerei im Überfluss ist das nicht ganz von der Hand zu weisen, rechtfertigt aber keinesfalls seine Mitmenschen mit allem, was irgendwo rein und auf anderem Wege wieder rauskommt, zu belästigen. 

Diese Form von Hyper-Individualismus, der sich auf viele andere unserer saturierten Lebensweisen übertragen läßt, verkörpert das Eingeständnis des Scheiterns und unterstreicht die Unfähigkeit, eine Unterhaltung anzuregen, bei der die komfortable Zone achtsamer Selbstverwirklichung verlassen werden muss. Oder handelt es sich in Zeiten von aufeinanderfolgenden Dauerkrisen um den resignierten Ausdruck wahrer Hilflosigkeit und Überforderung? Wenn wir uns dem Gefühl hingeben, dass wir der Eskalation nichts mehr entgegenzusetzen haben, sehnen wir uns im Rahmen einer Enttäuschungsprophylaxe nach dem Versuch von Selbstwirksamkeit. Wir suchen den Pause-Button für Probleme, blenden aus, verdrängen und bezeichnen uns als unpolitisch. Da die auf uns bezogene Wirkmacht Erfolge wahrhaft spürbar macht, sitzen wir dem Glauben auf, dass Selbstwirksamkeit, Selbstliebe oder Selbstachtung auch nach außen hin Wirkung zeigen. Aber wo soll das langfristig hinführen und wem ist damit wirklich gedient?

Als namhafte Vertreter*innen des Existentialismus wie Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre oder Albert Camus Mitte des letzten Jahrhunderts eine humanistische Wesensbestimmung ins Zentrum ihrer Betrachtungen rückten, war damit der Fokus auf die Hinwendung zu der individuellen Existenz eines Vernunftwesens gemeint. Statt jedoch lediglich im eigenen Selbst zu existieren, bildet sich eine wahrhafte Existenz eben nur im Zusammenspiel mit menschlichen Erfahrungen wie Verantwortung, Freiheit, Angst, Tod oder Handeln heraus. Die Aussage “Der Mensch versteht sich selbst nur im Erleben seiner selbst” verweist auf das Moment der Selbstbestimmung, das im Kontext einer Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen oder dem Klassismus gesehen werden muss und demnach vor allem ein egalitäres Ideal anstrebt. Demnach scheint die Hinwendung zum Selbst stark davon abhängig zu sein, ob sie nachhaltig wirkmächtig werden kann. 

Um die Moral nicht überzustrapazieren, sollte sie dem Fressen vor – oder nachgelagert sein, liegt der Schlüssel wie immer in einem maßvollen Mittel, das den Blick über den Tellerrand nicht versperrt. Während einer Unterhaltung am Tisch kann ich mich beispielsweise dafür begeistern, wenn jemand von einer bewegenden Begegnung erzählt, ein inspirierendes Buch, Theaterstück oder Konzert empfehlen kann und eine Haltung zu aktuellen Krisen, gesellschaftlichen Strömungen und politischen Akteuren hat – oder eben auch mal einen geistreichen Witz erzählen kann.
Wohl bekomms!