Rotation der Genüsse

8. Dez 2023

Oder: Genug Genuss genossen, Genossen!

Der Genuss steckt in einer handfesten Krise und droht als Euphemismus des reinen Konsumierens missverstanden zu werden. Haben wir es verlernt, richtig zu genießen, sind wir auf dem besten Wege genusssüchtig zu sein und wer oder was definiert den “richtigen” Weg? Selbst bin ich dem Genuss keineswegs abgeneigt, ganz im Gegenteil, jedoch empfinde ich immer häufiger ein Störgefühl, wenn es um das allgegenwärtige Versprechen maximaler Bequemlichkeit bei gleichzeitiger Befriedigung alltäglicher Gelüste geht. Ein Megatrend, bei dem die aktive Teilnahme am Leben zugunsten digitaler Convenience aufgegeben wird und man sich fortan das perfekte Leben nach Hause liefern lässt. Unterstützt von weltumspannenden Multikonzernen und heroischen Rund-um-die-Uhr Bringdiensten finden Unersättliche paradiesische Zustände vor, da ihnen jeder noch so abwegige Wunsch in hermesgleicher Eilfertigkeit erfüllt wird. 

Kaum sind die digital mündigen Konsument*innen erwacht, gilt es, keine kostbare Zeit zu verplempern: Das Lieblings Bircher-Acai-Müsli nebst Weizengras-Smoothie sind nur einen Klick entfernt, was die Frage, ob man vorher noch schnell duschen kann, obsolet macht. Irgendwo verloren geglaubte Lade-Infrastruktur wird unkompliziert innerhalb weniger Stunden nachgeordert, ohne sich mit der zeitraubenden Suche zu belasten. Um beim schwiegerelterlichen Jubiläum nicht mit Anwesenheit glänzen zu müssen, sind die Aufwartungen in Form großer Blumenbouquets sowie einer von ChatGPT gedichteten Grußkarte schnell bestellt. Mittags ein köstliches Lunch vom Hipster-Rahmenladen – Lieferung frei Haus, versteht sich. Aber dann ein kurzer Schock – die Kaffeebohnen für den Vollautomaten sind aus. Macht nichts, dafür gibt es uber-beschäftigtes Personal, das innerhalb von 15 Minuten den Koffeinhaushalt wieder herzustellen vermag. Die strapaziöse Arbeit im Homeoffice, die aus nervtötenden Zoom-Calls und kryptischen Slack-Diskussionen besteht, erfordert eine dringende Pause mit der Meditations-App oder einer online angeleiteten „Psychedelic Breath”-Übung. Zum Feierabend migriert man auf die heimische Couch für ein Date mit dem Streaming-Dienst des Vertrauens, dazu eine vegane Salsiccia-Pizza und ein paar Flaschen des fair gehandelten Pale-Ale. Fasziniert und ohne den leisesten Anflug von Bigotterie verfolgt man auf Disney+ “Farm Rebellion”, eine Dokumentation, die tatsächlich disruptive Ökolandwirtschaft porträtiert und damit den Machbarkeitsbeweis eines nachhaltigen Umgangs mit unserer Umwelt antritt. Fehlt nur noch glutenfreies Popcorn zum vollkommenen Glück einer digitalen Spezies, die sich jetzt auch mal etwas gönnen will, dafür aber nur ungern das Haus verlässt. Aus diesem Grund wurde irgendwann einmal ein smarter Kühlschrank angeschafft, der aber seit dem letzten Softwareupdate ein wirres Eigenleben entwickelt hat, das sich nicht mehr an den Bedürfnissen der Menschen orientiert.

Auf einmal werden Supermärkte, Kinos, Restaurants oder Belgische Bierbars und sogar Spätis zu entbehrlichen Unorten erklärt. Fast könnte man meinen, dass es die pandemisch bedingten Lockdowns und das damit einhergehende Gejammer nie gegeben hätte, wenn fortan das “Wir-bleiben-zu-Hause”-Narrativ als bevorzugte Lebensweise angesehen wird. Anscheinend ist das analoge Konzept sozialer Wechselbeziehungen zu vernachlässigen, solange man alle Vorzüge eines gut sortierten Geschäfts, fein zubereiteter Speisen sowie maximaler Konsumfreiheit auf dissoziative Weise genießen kann. Im Epizentrum einer kulturell abwechslungsreichen Metropole lebt man eigentlich nur noch, um sich der Illusion hingeben zu können, dass man ja theoretisch jederzeit das umfassende Angebot ausschöpfen könnte, wenn man nur wollte. 

Vor dem Hintergrund der  drohenden sozialen Vereinzelung einer altersdiversen Gruppe saturierter Stubenhocker muss die drängende Frage gestattet sein, ob man diese Form des dekadenten Genusses mit seinem Gewissen vereinbaren kann? Prekäre Arbeitsbedingungen ohne Sozialleistungen, ein Leben am Mindestlohn, dafür mit stark erhöhtem Sicherheitsrisiko und haarsträubenden Arbeitszeiten. Unablässig umher brausende E-Bikes, Motorräder oder Dieselfahrzeuge, deren Warenlieferungen man als Stadtbewohner*in auch fußläufig und zu sehr moderaten Öffnungszeiten beziehen könnte. Auch das um ein Vielfaches potenzierte Müllaufkommen, schlecht recyclebarer Verpackungen, gehört zu den schlagkräftigen Argumenten, die man hier ins Feld führen sollte. 

Obwohl eine kräftezehrende Einschränkung den Rückzug in einen geschützten Raum rechtfertigen würde, fehlt mir das Verständnis für jene, die den frei gewählten Ausschluss als Privileg ansehen und sich somit einer wünschenswerten Vergemeinschaftung entziehen. Auf einmal erscheint Genuss als rein konsumorientierte Idee von Freiheit der Wenigen, die eine einst gemeinwohlorientierte Idee von Freiheit aller abgelöst hat. Meine genüssliche Idee von Freiheit sehnt sich nach Teilhabe, die sich ganz bewusst mit der Umwelt assoziieren will. Auch jenseits von Konsumzwängen empfinde ich die unerwarteten Begegnungen im Draußen, das Glück, das auf der nicht immer sauberen Straße liegt, sowie das Aushalten von Launen, Haltungen und Zuständen als Sinfonie der Großstadt. Ein lieb gewonnener Erfahrungsschatz aus Neugier, Interesse und der für meine Krankheit typischen Versäumnisangst.