Alarmierender Museumsbesuch

18. Jul 2024

Vor kurzem war ich mit einer lieben Freundin in einer gut besuchten Ausstellung in Berlin. Die Neunzigjährige, kunstverständige Rentnerin kam mit ihrem Rollator, da sie sich vor einem Jahr die Hüfte gebrochen hatte und nun trotz beispielloser Rehabilitation und wiedergewonnener Beweglichkeit auf dieses Hilfsmittel zurückgreift, sobald sie in unbekannter Umgebung unterwegs ist. Eine für mich total nachvollziehbare Herangehensweise, die ich mit meinem Langstock inzwischen ähnlich handhabe. Glücklicherweise hatten wir uns für ein Museum entschieden, das in Sachen Barrierefreiheit und hilfsbereiter Freundlichkeit mustergültig zu nennen ist. 

Als ein in mehrerer Hinsicht eingeschränktes Paar sorgten wir bereits beim Betreten des Eingangsbereichs für Aufsehen: Eine leicht schwerhörige, ältere Dame mit Rollator in Begleitung einer blindenstockschwingenden Person, die aufgrund eines Bänderrisses auch noch einen überdimensionierten Aircast am rechten Bein hinterherzog. Nachdem wir uns darüber einig waren, wer wohl wem die Tür aufhalten möge, wurden wir herzlich empfangen, mit Audioguides ausgestattet und von zwei engagierten, jungen Mitarbeiterinnen direkt um unsere anschließende Einschätzung zu der Behindertengerechtigkeit ihres Hauses gebeten. Diesbezüglich schien unsere Kompetenz äußerst glaubwürdig. 

Kaum hatten wir den eigentlichen Ausstellungsraum betreten, wurde klar, dass diese Ausstellung aufgrund des positiven Medienechos extrem gut besucht war. Mindestens eine Grundschulklasse und mehrere geführte Gruppen vom Typ Landfrauen meets Zeitreisen bildeten, neben versprengten Besuchenden, die kritische Masse, der wir uns nun stellen mussten. Alle versuchten, den limitierten Platz vor den gut kuratierten Werken gesittet für sich einzunehmen, was bereits allein schon aufgrund der Menge an Menschen ziemlich herausfordernd war. 

Ich kämpfte noch mit der wenig intuitiven Bedienung des Audioguides, als mich ein großgewachsener Herr im Anzug ansprach, der meine Schwierigkeiten mit einem mitleidigen Blick und den Worten “Ist doch ganz einfach! Man tippt die Nummer ein und drückt auf OK!” kommentierte, womit sein minimalistisches Verständnis von Hilfsbereitschaft  abgearbeitet war und er sich wieder ungestört der Kunst widmete, welche er seiner Begleiterin selbstverliebt, deklamierend und wild gestikulierend erläuterte.
Sie ertrug es mit Fassung, während er unaufhörlich auf sie einredete und mit seinem hektischen Handbewegungen in der Nähe der Kunstwerke immer wieder den sensibel eingestellten Alarm auslöste. Die anfängliche Irritation darüber ging bei den umstehenden Besuchern jedoch allmählich in Gewohnheit über.

Die Tatsache, dass man in Ausstellungen mit klar definierten Besucherpfaden stets mit denselben Personen zusammen in einem Pulk bleibt, spielte dem Gewöhnungseffekt in die Hände. Wenn zufällige Begegnungen dieser Art gut laufen, hat man ja am Ende eines Events manchmal sogar das Gefühl, neue Bekanntschaften gemacht zu haben. Jedoch galt dies ausdrücklich nicht für jenen, besagten Herren, obwohl dieser sich fortlaufend darum bemühte, sich mittels eitlem Mansplaining und seiner aufdringich lauten Stimme in das Langzeitgedächtnis aller Umstehenden einzubrennen.

Als das vom hohen Besucherandrang arg geforderte Aufsichtspersonal nach einiger Zeit hellhörig geworden war, versucht es, im dichten Gedränge die Übeltäter*innen für den wiederkehrenden Alarm zu lokalisieren, gerade in dem Moment, als meine Freundin sich einem der gemälde näherte, um die die selbst für altersweitsichtige Personen extrem schwer zu entziffernde Bildunterschrift vorzulesen. Für die geradezu juvenile Agilität, mit der sie dabei ihren Rollator elegant durch den Raum beförderte, hätte sie nicht nur meine Hochachtung verdient. Doch meine Anerkennung wurde durch eine wachhabende Aufsichtsperson jäh unterbrochen, die zielstrebig uns – die “beiden Behinderten” – als Verursacherinnen des Höllenlärms zu identifizieren glaubte. Höflich und mit der ihr rechtmäßig zustehenden Autorität wies sie uns darauf hin, doch bitte etwas vorsichtiger zu sein. Verständnislos deutete sie dabei auf die selbst für mich gut erkennbaren weißen Bodenlinien, welche das Abstandsgebot zu den Kunstwerken kennzeichneten. Als unsere erstaunt fragenden Blicke sie trafen, sah sie sich genötigt, eine Erklärung nachzureichen. “Sie lösen ständig den Alarm aus und das stört die anderen Besucher. “ Noch bevor ich diese haltlose Unterstellung angemessen prozessieren konnte, was angesichts der vorausgeeilten Klärung der Schuldfrage wenig hilfreich war, konterte ich mit einem allgemeingültigen Erklärungsversuch:  “Ob die Kurator*innen vielleicht schon mal darüber nachgedacht hätten, Bildinformationen für alle gut lesbar anzubringen?” Selbst als der selbsternannte Kunsthistoriker erneut den Alarm ausgelöst hatte, blieb die Aufsichtsperson unerbittlich – war es doch wohl offensichtlich, dass hierfür nur die “Blinde” und die “gehbehinderte Alte” verantwortlich gemacht werden könnten. Es handelte sich also keinesfalls um ein Missverständnis, sondern ein knallhartes und wider besseres Wissen wiederholt vorgebrachtes Vorurteil, das ich so nicht auf uns sitzen lassen konnte. Mein lautstarker Protest führte nirgendwo hin und so deutete ich in einem letzten Akt der Verzweiflung auf die Nervensäge, der – man ahnt es fast – schon wieder in alarmierender Hörweite war. Keine Reaktion auf Seiten des Aufsichtspersonals – Fall erledigt. Fest entschlossen, uns von dieser unschönen Szene weder den Kunstgenuss noch das lang ersehnte Wiedersehen vermiesen zu lassen, zogen auch wir weiter. 

Diese typische Alltagssituation, die manche als Microaggression oder bestenfalls als Missverständnis bezeichnen würden, verdeutlicht die fehlgeleitete Herangehensweise vieler öffentlicher Einrichtungen, wenn es um Barrierefreiheit geht. Gut gemeint, ist eben noch lange nicht gut gemacht. So verbessern analoge Audioguides eben keinesfalls die Zugänglichkeit für sehbehinderte, bline, intellektuell eingeschränkte oder hörgeschädigte Personen. Es bedarf dann immer einer zusätzlichen Hilfestellung, die fast immer in Form einer zusätzlichen Begleitung erfolgt. In Zeiten, wo 90 Prozent der Besuchenden ein smartes Hochleistungs-Device in ihrer Hosentasche mitführen, könnte man zum Beispiel auf die NFC oder RFID-Technologie zurückgreifen, um den Bedürfnissen aller in einem überfüllten Ausstellungsraum gerecht zu werden. Auf diese Weise könnten die gewünschten Informationen nicht nur als Audio, Text oder in leichter Sprache bereitgestellt werden, ohne dass man sich um die viel zu kleinen Bildunterschriften herum drängen muss. Da die Technologie weiß, wo man sich gerade im Raum befindet, können auch alle anderen sich frei im Raum verteilen. Barrierefreie Zugänge sollten im Idealfall denjenigen helfen, die darauf angewiesen sind, während sie von denjenigen, die sie (noch) nicht brauchen, entweder ignoriert oder als Zusatznutzen empfunden werden. Wenn derartige Systeme zukünftig auch durch künstliche Intelligenz unterstützt werden, ließe sich das als positiver Use-Case verbuchen. In diesem Fall würde ich mir wünschen, dass die KI von dem unschätzbaren Wissensumfang und beeindruckenden Kunstverstand meiner lieben Freundin “gefüttert” wird.