Erfahrungen teilen, Vielfalt erleben

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Menschen mit Sehbehinderung erleben oft die Phasen, die auch trauernde Menschen durchmachen: Von der Leugnung über Wut zur Akzeptanz der Realität. Auch Sophie von Stockhausen hat das Fortschreiten ihrer Seheinschränkung so erfahren. Wie sie den Kreislauf ständiger Selbstzweifel, genährt durch Zweifel und Vorurteile der Gesellschaft, durchbrach, erzählt sie im folgenden Beitrag.

Von Sophie von Stockhausen

Vor der Schule meines Sohnes traf ich neulich Abend auf zwei Jungen, die ausgelassen tobten und dann plötzlich innehielten: „Ich habe noch nie eine blinde Person gesehen!“, meinte der eine verschwörerisch. Scheinbar hatte er auch noch nie davon gehört, dass viele sehbehinderte und blinde Menschen einen ausgezeichneten Hörsinn besitzen. Da ich die Unbefangenheit von Kindern sehr schätze und den Dialog immer besser finde als Schweigen, machte ich einen Schritt auf sie zu, woraufhin der andere sich interessiert erkundigte, ob ich denn tatsächlich blind sei? Eine knapp gehaltene Klärung der Sachlage reichte aus, und im Nu waren beide wieder in ihr Spiel vertieft.

Daran, dass ein Langstock fast immer mit kompletter Blindheit assoziiert wird und Anlass für verwunderte Nachfragen bietet, bin ich inzwischen gewöhnt. Wesentlich überraschender war in diesem Moment, dass ein etwa elfjähriger Schüler in Berlin tatsächlich noch nie einen blinden Menschen gesehen hatte. Was sagt das über eine Gesellschaft aus, die mit den Schlagworten „Diversität“ und „Inklusion“ geradezu inflationär um sich wirft? Offenbar scheitert die Forderung nach gelebter Teilhabe immer noch an strukturellen und institutionellen Barrieren, weshalb erfolgreiche Inklusion für gewöhnlich auf ehrenamtliches Engagement, ein unterstützendes soziales Umfeld und wenig beachtete Best-Practices-Leitbilder angewiesen ist.

Bei der amerikanischen Diversitäts- und Inklusionstrainerin Verna Myers heißt es: „Diversität ist die Einladung zu einer Party  –  Inklusion ist die Aufforderung zum Tanzen.“ Das mag stimmen, aber ich würde diese auf Passivität reduzierte Aussage noch um den essenziellen Aspekt der Selbstbestimmung ergänzen wollen. Schließlich möchte ich aktiv entscheiden, ob und mit wem ich tanzen möchte.

Abschied vom sehenden Ich

Bis ich diese Einstellung als stark sehbehinderte Person jedoch so souverän vertreten konnte, war es ein steiniger Weg. Diagnose mit Anfang 30, die ersten dramatischen Einschränkungen folgten nur wenige Jahre später. Eigentlich genug Zeit, um mich auf die kontinuierliche Veränderung mit folgenschweren Beeinträchtigungen einzustellen. Doch der alternativlose Abschied von meinem sehenden Ich fiel mir verdammt schwer, weshalb ich es vorzog, meine Sehbehinderung erst einmal zu ignorieren. Der trügerische Triumph über eine unheilbare Augenerkrankung war offenkundig zum Scheitern verurteilt und wurde von schmerzhaften, peinlichen und missverständlichen Erfahrungen begleitet.

Rückblickend lassen sich meine unterschiedlichen emotionalen Zustände in die fünf Phasen der Trauerbewältigung einordnen: ich leugnete, war nicht selten wütend, verhandelte mit dem Schicksal, verfiel in Depressionen, bis ich meine neue Lebensrealität schließlich akzeptieren konnte. Da jedes Prozent verbleibender Sehkraft zählt, mag es nachvollziehbar erscheinen, dass ich einen offensiven Umgang aufschob. Meine Weigerung, rechtzeitig Beratung oder Hilfsmittel in Anspruch zu nehmen, war jedoch Ausdruck einer tief verwurzelten Selbststigmatisierung. Vergeblich suchte ich nach einer Haltung in haltlosen Zeiten. Ein unter Betroffenen weit verbreitetes Phänomen, das mich während der weiteren Auseinandersetzung dazu veranlasst hat, nach den Gründen für diese Abwehrhaltung zu fahnden.

Geprägt vom Ideal einer Leistungsgesellschaft, deren Ansprüche nur wenig Raum für Andersartigkeit lassen, befürchtete ich, ausgeschlossen zu werden, wenn das Ausmaß meiner Sehschwäche bekannt würde. Scheinbar fehlten auch mir alltägliche Begegnungen und sichtbare Anknüpfungspunkte im Umgang mit von Behinderung betroffenen Menschen. Eine selbstkritische Erkenntnis, die mir half zu verstehen, warum ich, als inzwischen stark eingeschränkte Person, bereits selbst einschlägige Erfahrungen mit diskriminierenden Vorurteilen und typischen Vorbehalten gemacht habe. Obwohl meine eigene Identitätsfindung ein langwieriger Prozess gewesen war, empfand ich es als inakzeptabel, stets um die Teilhabe wesentlicher Bereiche innerhalb der Mehrheitsgesellschaft ringen zu müssen.

Raus aus der Passivität

Während meine schonungslose Offenheit mit der Sehbehinderung innerhalb meines vertrauten Umfelds glücklicherweise einen radikalen Wandel bewirkte, ließ sich dieser positive Effekt leider nicht auf die öffentliche Wahrnehmung übertragen. Vor allem in der anhaltenden Jobfindungs- und Bewerbungsphase begegneten mir Scheu, Unkenntnis und zuweilen auch Intoleranz.

Und da ich es einfach nicht besser wusste, begann ich, an mir selbst zu zweifeln. Daran konnten weder Beratungen noch Integrationsmaßnahmen etwas ändern, und ich durchbrach diesen Kreislauf der Enttäuschung erst durch den Schritt in die Selbstständigkeit. Ich begann zu schreiben und startete eine berufliche Karriere als Kolumnistin, Texterin, Ghostwriterin und schließlich Buchautorin. Das damit einhergehende neue Selbstverständnis brachte den lang ersehnten Perspektivwechsel  –  raus aus der Passivität und rein in die aktivistische Gestaltung eines wünschenswerten Miteinanders.

Wie können wir selbstverständliche Begegnungen möglichst diverser Gruppen erlebbar machen? Wie die fälschliche Annahme, es handele sich dabei um Partikularinteressen, ein für alle Mal ausräumen? Zum Beispiel, indem wir barrierefreie Konzepte realisieren, die dem Anspruch des Universal Designs gerecht werden. Gemeint ist eine Barrierefreiheit, die mehr als nur die offensichtliche Zielgruppe mitdenkt. Von einem Blindenleitsystem kann eben auch eine von überfüllten Gebäuden irritierte Person mit Kinderwagen profitieren, wenn sie auf diese Weise den Fahrstuhl findet. Und wie oft hätte ich mir beim Ausfüllen komplizierter Formulare Leichte Sprache gewünscht. Ein barrierefreier Zugang zu Waren, Dienstleistungen oder Einrichtungen birgt keine Nachteile für all jene, die (noch) nicht darauf angewiesen sind, macht aber einen erheblichen Unterschied für Kinder, Eltern, Seniorinnen und Senioren und Menschen mit sichtbaren oder unsichtbaren Behinderungen. So betrachtet wird aus den Bedürfnissen einer Minderheit plötzlich der Anspruch einer signifikant größeren Gruppe, die das Verhältnis zur „Mehrheitsgesellschaft“ in Frage stellen dürfte.

„Ich erhebe die Stimme“

Im wortwörtlichen Sinn impliziert Teilhabe die Bereitschaft des Miteinander-Teilens. Für mich bedeutet es in erster Linie, meine persönlichen Erfahrungen öffentlich zu teilen, diese in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext zu setzen, um ihre politische Relevanz hervorzuheben. Auch oder gerade weil ich es früher komplett anders gehandhabt habe, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es authentische und nachvollziehbare Erzählungen braucht, die für mehr Toleranz, Gleichstellung und eine wünschenswerte Vielfalt eintreten. Gemäß dem Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention „Nichts über uns ohne uns“ erhebe ich die Stimme. So zum Beispiel in meinem Blog, bei Workshops, in Interviews oder in meinem jüngst erschienenen Buch „Mit einem lachenden Auge“, in dem ich Worte für jene Erfahrungen gefunden habe, die mich über Jahre sprachlos gemacht haben.

Sophie von Stockhausen (48), lebt in Berlin. Ihr Buch „Mit einem lachenden Auge“ ist im März 2023 im Selbstverlag erschienen. Es ist im Buchhandel oder online und seit Januar 2024 auch als Hörbuch erhältlich.

Mehr Informationen zur Autorin, Blog, Podcasts und Interviews unter https://sophiestockhausen.de