BarriereFREI

4. Dez 2024

Ob wir wollen, oder nicht.

London – eine Woche voller Begeisterung, spannender Begegnungen und gelegentlicher Überforderung. Neugierig bestaunte ich die transformierte Metropole, die sich seit meinem ewig zurückliegenden Besuch sehr verändert hatte. Eines ist jedoch gleich geblieben: Damit Millionen von Menschen ihrer alltäglichen Lebensrealität nachgehen können, müssen sie kilometerlange Strecken zurücklegen. London ist eine der wenigen Städte, wo man hierfür fast ausschließlich öffentliche Verkehrsmittel nutzt. Eine gelungene Stadt- und Nahverkehrsplanung, die ausnahmslos alle einlädt, sie zu nutzen. Für ein Auto haben selbst Bessergestellte kaum Verwendung. 

 

Das Transportwesen gleicht einer gut geölten Maschine: Effizient, beispiellos und verlässlich. Einem klaren Reglement folgend steht man auf den rasenden Rolltreppen rechts und überholt links, eilt durch endlose Tunnelsysteme oder reiht sich ordentlich in Warteschlangen ein. Ganz automatisch gerät man in den Sog einer „Massenbewegung“, deren oberstes Gebot “Vorankommen, Auskommen, Ankommen” lautet.

Vorausschauend geht man sich rücksichtsvoll aus dem Weg, vermeidet unnötigen Körperkontakt oder Staus und entschuldigt sich lieber im Voraus, völlig gleich, ob es überhaupt einen Grund dafür gibt oder wer dafür verantwortlich sein könnte. Vielmehr kann die vorauseilende Entschuldigung, ebenso wie das inflationäre Bedanken, Missverständnissen vorbeugen. Vorweggenommenes Krisenmanagement: Denn eine Störung dieses unaufhaltsamen Flusses kann sich hier niemand leisten. Es erfordert Disziplin, um einen reibungslosen Ablauf gewährleisten zu können. Da sich alle bewusst oder zumindest unterbewusst daran halten, wirkt es überdies mühelos.

 

Nun könnte man annehmen, dass es für all jene, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, überhaupt nicht mühelos ist, Teil dieses Flusses zu sein. Doch wenn ich eingangs von Überforderung gesprochen habe, empfand ich die ausnahmslos barrierefreie Mobilität tatsächlich als genau das.

 

Neben funktionierenden Rolltreppen, Aufzügen, inklusiven Zugängen, einem hohen Sicherheitsstandard und Personalaufwand, setzen die Londoner Verkehrsbetriebe auf Kommunikation. Die oben beschriebene, achtsame Disziplin ist für die meisten Nutzer*innen zwar selbstverständlich, dennoch ist man darauf bedacht, Informationen für alle nachvollziehbar zu gestalten. Jede Verkehrsverbindung wird selbstverständlich angesagt und mögliche Abweichungen frühzeitig bekannt gegeben. Gleiches gilt für defekte Fahrstühle etc., so dass Betroffene rechtzeitig reagieren oder vor Ort fachkundige Hilfe erhalten können. Während der Rushhour oder bei hohen Fahrgastaufkommen, erhält man klar verständliche Verhaltenshinweise. Auch während der Fahrt gibt es selbstverständlich Durchsagen zu Station, Umsteigemöglichkeiten oder Sehenswürdigkeiten. Insgesamt wirkt das Personal kompetent geschult, hilfsbereit und proaktiv daran interessiert, einen reibungslosen Ablauf zu garantieren. 

 

Wow! Obwohl wir theoretisch über ein gutes Streckennetz verfügen, offenbart sich hier  insbesondere für ältere Menschen, Personen mit Behinderungen, Eltern mit Kleinkindern und Ortsfremden die miserable User-Experience unseres ÖPNV. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich mir viele Strecken noch als Sehende gemerkt habe, daher bereits weiß, wo man den Anschlussbus oder den versteckten U-Bahneingang suchen muss und welche Stationen man lieber meidet. Wie kann es sein, dass wir heutzutage immer noch keine obligatorischen Lautsprecheransagen haben, die man zum einen versteht und die zum anderen auch für Busse und Trams gelten? Nicht selten stehe ich am Alexanderplatz ganz vorne, in der Hoffnung, dass die sich nähernde Tram sich zu erkennen gibt und der Fahrer mürrisch die Tür aufreißt, um mir ein “M4!” entgegen zu brüllen. Wenn dieser es dann aber vergisst, muss ich mich leider fragend an Umstehende wenden. Wie könnte ich darüberhinaus noch Ortsfremden erklären, wo die Anschlusshaltestelle oder der Schienenersatzverkehr zu finden sind, während ich bereits selbst völlig ahnungslos mit meinem Langstock umherirre? Ist es okay, so mit Fahrgästen umzugehen, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind? 

In London lautet die Antwort: Nein, definitiv nicht!
Dementsprechend handelt der Dienstleister, indem er vor allem die schwächsten Verkehrsteilnehmer*innen mitdenkt. Weniger um Partikularinteressen gerecht zu werden, sondern um das Angebot universell einfacher und somit attraktiver zu gestalten. 

 

Wieder zu Hause, bleibt die Frage, ob es eigentlich hinnehmbar ist, dass barrierefreie Zugänge hierzulande ein halbgares “Wäre schön jewesen…” ausdrücken, anstatt ein menschliches Miteinander abzubilden? Rein rechtlich handelt es sich fast immer um eine “Kann-” und keine “Muss-”Richtlinie. Lässt sich daraus schlussfolgern, dass wir tatsächlich nicht wollen? Denn ob wir wollen oder nicht, beweist das Londoner Beispiel, dass inklusiv und attraktiv hervorragend funktioniert. Was spricht also gegen das Wollen?