Die Heimsuchung

21. Dez. 2024

Von Umständen und Zuständen

Mit einem unterdrückten Schrei schreckt Maria aus einem Traum hoch oder ist es eine Vision? Noch mäandert sie durch das diffuse Niemandsland zwischen Traum und Wirklichkeit, unfähig Realität und Einbildung auseinanderzuhalten. Aber sie sieht es jetzt ganz deutlich vor sich: eine riesige Erscheinung, männlich? weiblich? Wer weiß das schon so genau. Beim Outfit, ein gelungener Mix aus Ikarus und Krampus, hat sich der Verkleidungskünstler auf jeden Fall Mühe gegeben. Sofort beschleicht Maria ein komisches Gefühl: Mit dem stimmt doch was nicht! Und dann erkennen ihre schlaftrunkenen Augen, dass die Gestalt tatsächlich zu schweben scheint. Er stellt sich als Erzengel Gabriel vor. Maria erschaudert, so furchterregend hat sie sich den Himmelsboten nun wirklich nicht vorgestellt. Seine geheimnisvoll dröhnende Stimme unterbricht ihren Gedanken:  “Sei gegrüßt, Maria! Der Herr ist mit dir! Er hat dich unter allen Frauen auserwählt.” Verdattert möchte sie etwas erwidern, aber der Engel ist mit seiner wundersamen Botschaft noch nicht fertig: “Hab keine Angst, Maria, Gott hat dich zu etwas Besonderem ausgewählt. Du wirst schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen. Jesus soll er heißen.” “Was zum …!” entfährt es ihr. Plötzlich ist sie hellwach und hätte jede Menge Fragen, aber der Erzengel ist genauso schnell verschwunden, wie er erschienen ist. Diese hermesgleichen Superkräfte gehören wohl zum Jobprofil. Josef, der einen beneidenswerten Tiefschlaf hat, grummelt etwas Unverständliches, tätschelt nach Maria, bevor er sich wieder seinem genüsslichen Schnarchen zuwendet.

Was war das bitte?!? Wer oder was ist hier auserwählt? Und schwanger? Sie? Wohl kaum! Dieser Gabriel ist wohl von allen guten Geistern verlassen und was fällt dem eigentlich ein, so eine gewichtige Nachricht zu einer derart unchristlichen Zeit zu überbringen? Mit der guten Kinderstube ist es im Himmel wohl auch nicht mehr weit her. Ein herbes Aroma von Salbei-Weihrauch hängt bleischwer in der Luft, außerdem hat der ungebetene Besucher ein paar Federn gelassen. Beweis genug, dass Maria nicht an ihrem Verstand zu verzweifeln braucht. Jedoch beginnt sie an ihrer weiblichen Intuition zu zweifeln, da diese dubiose Begegnung bestätigt, was sie seit Tagen energisch zu ignorieren versucht. Morgenübelkeit, emotionale Zustände, Heißhunger auf Baba Ghanoush. Warum sie sich bis eben so sicher war? Weil Josef und sie noch keinen Sex hatten, weil sie noch nie Sex hatte und weil das zwei ziemlich triftige Gründe sind, sicher zu sein.

Langsam weichen die Zweifel dem Ernst – und Ernst, äh Jesus hat sich mit aller Vehemenz angekündigt. Wow! Doch trotz aller Skepsis kreisen ihre nächsten Gedanken um die Frage, wie sie Josef erklären soll, was sie selbst für unerklärlich hält? Wem kann, wem darf sie sich überhaupt anvertrauen? Es braucht keine wilde Fantasie, um sich die ungläubige Reaktion ihrer Frauenärztin auszumalen: “Ihnen ist also ein Geist erschienen und hat Ihnen versichert, dass Sie ein Kind erwarten, obwohl Sie noch Jungfrau sind? Engel – meinetwegen! Haben Sie es statt mit spirituellen Wesen mal mit einem handelsüblichen Schwangerschaftstest versucht? Und wer käme denn rein hypothetisch gesprochen als Vater in Frage, Josef oder dieser Gabriel?” Augenblicklich bereute Maria ihre Offenheit der Ärztin gegenüber. Als die anschließende Untersuchung die himmlische Ankündigung besiegelt, hat diese nur noch hochgezogene Augenbrauen und herablassende Belehrungen für Maria übrig. Sie habe ja schon so einiges erlebt und großes Verständnis für junge Frauen, die sich in einer verzweifelten Lage befinden. Aber im 21. Jahrhundert brauche es doch nun wirklich keine hanebüchenen Erklärungen mehr für eine ungewollte Schwangerschaft. 

Das war vor ein paar Wochen und obwohl Maria glaubt, der peinlichste Moment ihres Lebens läge bereits hinter ihr, wurde sie eines Besseren belehrt. Die dann einsetzende Dynamik, die der Dampfplauderer Gabriel lapidar als göttliche Fügung betitelt, offenbart, dass sie nun endgültig die Kontrolle über ihr Leben verloren hat. Seltsamerweise ist ihr anfänglicher Widerstand gegen den Kontrollverlust einem nie dagewesenen Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein gewichen. Ob dafür die mächtigen Schwangerschaftshormone verantwortlich sind oder die Tatsache, dass Josef auf ihre bedenklichen Umstände überraschend gelassen reagiert hat? Josef, der in dieser Angelegenheit wahre Größe beweist, obwohl er ansonsten komplett übersehen wird. Er hätte allen Grund, wütend zu sein, sie tief getroffen und ohne ein weiteres Wort stehen zu lassen. Dankbar für sein bedingungsloses Verständnis, wird Maria schmerzlich bewusst, dass sie weiß Gott einen engen Verbündeten gebrauchen kann. In ihrer Rolle als People & Culture Managerin durfte sie erst einmal lernen, ihr Temperament zu dosieren, tauschte impulsives Verhalten gegen geduldige Achtsamkeit ein und schulte sich und andere in gewaltfreier Kommunikation. Fraglich, ob diese Sozialkompetenzen ihr jetzt weiterhelfen können. 

Immerhin hat sie verstanden, dass sie mit der Wahrheit – was immer das auch heißen soll, in diesem Szenario nicht weiterkommt. Aus diesem Grund haben Josef und sie sich auf ein “If you don’t tell I won’t tell.” geeinigt, Niemand müsse erfahren, dass Josef nicht der Vater ist und mal im Ernst – wer glaubt heute noch an den Sohn Gottes? Um eine wenig erfolgversprechende Diskussion mit Gabriel zu vermeiden und weil beide den Namen einfach himmlisch finden, bleibt es bei Jesus. Erleichtertes Aufatmen. Die Kuh ist vom Eis! 

Doch die erlösende Zuversicht kommt verfrüht. Man hat die Rechnung ohne den Spin Doktor gemacht und Gabriel hat andere Pläne. Irgendwie auch naiv, anzunehmen, man könne mal eben den Heiland zur Welt bringen, ohne die gebotene Aufmerksamkeit auf dieses denkwürdige Ereignis zu lenken. Au contraire! Und bevor Maria sich versieht, wird von höchster Stelle eine beispiellose Medienkampagne in Gang gesetzt: Offizielle Verkündigung an alle Pressestellen sowie Nachrichtenkanäle, Social-Media-Aktionen, die wie durch ein Wunder viral gehen. Anfragen von Reporter*innen aus Print, Rundfunk und Fernsehen, linear und online versteht sich. Exklusive Homestory, ein eigener TikTok- sowie YouTube-Kanal, um die Ankunft des Messias tagesaktuell zu begleiten, Merchandise, Heiligsprechung, Segnung und eine Einladung in den Vatikan. Um nichts dem Zufall zu überlassen, werden sogar leibhaftige Boten ausgesandt, die als Hirten verkleidet strukturschwache Gegenden erreichen sollen. Ohnmächtig versucht Maira das Ausmaß dieser ungeliebten Aufmerksamkeit zu begreifen, scheitert aber schon im Ansatz und flüchtet sich erst einmal in das innere Exil. “Vermeidung ist auch keine Lösung“, versucht Gabriel es diplomatisch oder was er dafür hält. “OMG! Halt dich fest – gerade haben sich 3 Sinnfluencer aus dem Morgenland angekündigt. Du wirst mit crazy Babyshower Geschenken überhäuft werden, meine Liebe!” Maria seufzt. 

Die leise Hoffnung, die Nachricht von der Geburt Christis würde in der kurzlebigen Aufmerksamkeitsökonomie in Vergessenheit geraten, bleibt unerfüllt. Die Annahme, dass Maria sich zu diesem Ausnahmezustand nicht verhalten müsse, ist ebenso illusorisch. Seit Tagen hat sie höllisches Sodbrennen, muss ständig pinkeln, schläft miserabel und sehnt die erlösende Geburt geradezu herbei. Nichts von alledem hat sie sich ausgesucht und dennoch muss sie sich den Konsequenzen unweigerlich stellen.

Insbesondere die Reaktionen in den sozialen Medien oder Kommentarspalten treffen Maria unvorbereitet hart. Von einer Seite harsch als Holy Pick-Me-Girl abgestempelt, während andere sie als Trad-Wife verhöhnen oder verehren – je nachdem, wen man fragt. Tochter_Zion mahnt auf X die verfrühte Vorfreude zu mäßigen. Unterdessen feiert die woke Community das progressive Situationship mit Kinderwunsch, wobei etliche Feministen*innen die stark religiös geprägten Motive des Patriarchats anprangern. Unter dem #ExMas bringen sich reaktionäre Verschwörungsgläubige in Stellung, um die drohende Dominanz der Weiblichkeit abzuwenden. Die von der Erregungskultur befeuerte Ablehnung unbeteiligter Dritter macht Maria einerseits sprachlos, dann wütend und traurig. Okay, als Feministin ist die Sache mit der unbefleckten Empfängnis echt problematisch. Das kann sich nur ein Mann ausgedacht haben. Aber Gabriel meint, dass es ein spektakuläres Narrativ braucht, das ohne Vaterschaftstest des Herrgotts auskommt. Ist Jesus erst einmal auf der Welt und die Dinge nehmen ihren Lauf, wird sich – davon ist Gabriel überzeugt – niemand mehr an diese kleine Unstimmigkeit erinnern. 

Auch diese Heiligenverehrung, die Maria vom anderen Lager entgegengebracht wird, ist seltsam. Warum in Gottes Namen sollte man ihr gedenken, sie verehren oder gar anbeten? Ging es in der Verkündigung nicht um das Bekenntnis alle und alles zu achten und zu ehren? Inzwischen hat sie verstanden, dass sie es ohnehin niemandem Recht machen kann. Objektiv betrachtet lässt sich ihr Beziehungsgeflecht keiner Kultur, Tradition, Lebensweise oder Haltung zuordnen. Scheinbar wirkt aber gerade der Mangel an eindeutigen Zuschreibungen auf besorgte Bürger*innen verunsichernd. 

All jene, die Jesus als Erlöser allen Übels und Überbringer der Friedensbotschaft ansehen, möchte Maria daran erinnern, dass man die menschengemachten Probleme nicht einfach in die unschuldigen Hände ihres Nachwuchses legen kann. Die Erwartungshaltung der Anhängerschaft scheint weit hergeholt, geht es doch um nichts weniger als Weltreligion, Wunder und Wiederauferstehung. Was derart überzogene Ansprüche mit ihrem Sohn machen werden, liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Ohnehin ist ihre Vorstellungskraft in der letzten Zeit stark überstrapaziert. Hinzu kommt, dass sie, seit Gabriel das zeremonielle Zepter übernommen hat, keinerlei Selbstbestimmungsrechte mehr hat. Sogar der Geburtstermin, der ausgerechnet auf den 24. Dezember fällt, wirkt inszeniert. 

Eine inoffizielle Niederkunft kann sie sich aus dem Kopf schlagen. Vielleicht sollte sie doch auf Josef hören, der eine heimliche Landflucht vorschlägt, um in aller Abgeschiedenheit zu Sinnen zu kommen.  

Da die äußeren Umstände unumstößlich und in Stein gemeißelt sind, bleibt Maira nur, alles Menschenmögliche dafür zu tun, dass Jesus im Sinne der Nächstenliebe aufwächst. Sie hat da so ein Gefühl, dass er das gut gebrauchen kann. Eine bedingungslose Liebe, die sich am Ideal von Empathie, Toleranz und Involviertheit orientiert, für die es weder Gebote noch Gesetze braucht, weil der innere Kompass einem die angezeigte Richtung weist. Nur so wird ihr Kind den Erwartungen und Herausforderungen begegnen können. Nur so wird er das Scheitern und die Verletzlichkeit lieben lernen. Nur so können wir gemeinsam dazu beitragen, dem Ziel, Frieden auf Erden etwas näher zu rücken.